Zuzug:Es gab schon immer Zugezogene in München

Kinder im Auer Mühlbach, 1939

Es sieht idyllisch aus, tatsächlich aber herrschte in den Herbergsvierteln am Auer Mühlbach oft bittere Armut (Foto von 1905)

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

1840 gab es 95 000 Einwohner, siebzig Jahre später waren es 600 000. Neuankömmlinge wurden damals abfällig als Preißn bezeichnet. Nicht für alle von ihnen war die Stadt eine märchenhafte Verheißung.

Von Wolfgang Görl

In seinem 1879 erschienenen "Münchener Bilderbogen" blickt der Dichter und Theatermann Franz Dingelstedt, der in den 1850er Jahren als Intendant am Hoftheater gewirkt hatte, zurück auf seine Münchner Zeit. "Um die Mitte der fünfziger Jahre war die Fremden-Colonie dergestalt an Zahl gewachsen, im Bestande gefestigt, dass sie als eigenes Element in der Bevölkerung gelten durfte."

Dingelstedt spielt damit auf die sogenannten Nordlichter an, die König Maximilian II., der eine Leidenschaft für Wissenschaft und Literatur hegte, nach München gelockt hatte. Unter diesen sind Koryphäen wie der Chemiker Justus von Liebig, der Historiker Heinrich von Sybel, der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl oder der Dichter Emanuel Geibel. Bei den Münchnern kommen die fremden Geistesmenschen, in deren Gefolge sich noch Hunderte Studenten in der Stadt breit machen, schlecht an. Man neidet ihnen die teils üppigen Gehälter, und ganz unmöglich ist es selbstredend, dass die meisten von ihnen Protestanten sind.

Die Nordlichter bilden eine eigenen Kolonie, einige suchen auch bald wieder das Weite, kapitulierend vor der Mia-san-Mia-Dumpfbackigkeit der alteingesessenen Münchner. Über deren geistige Befindlichkeit macht sich Dingelstedt keine Illusionen: "Gastfreundschaft gegen Fremde, entgegenkommende Höflichkeit im geselligen Verkehr, freiwillige Theilnahme an wissenschaftlichen oder künstlerischen Bestrebungen, Versuchen, Neuerungen, alle diese Eigenschaften liegen bekanntlich nicht im angeborenen Stammcharakter der Altbayern."

Nun ja, das ist schon etwas peinlich für München, und es ist auch nur eine schwache Entschuldigung, dass die Zugezogenen, egal woher sie tatsächlich stammten, generell als "Preißn" betrachtet wurden, die in der Rangliste missliebiger Völker in Bayern seit je ganz oben stehen. Wer aus diesem Fall aber den Schluss zieht, zur natürlichen Verhaltensweise des Münchners gehöre es, beim Anblick eines Fremden sofort alle Zugbrücken hochzuziehen, ist auf dem Holzweg.

Schon eher darf man den Münchnern eine halbwegs passable Bereitschaft unterstellen, Zuzügler nach einer gewissen Karenzzeit als Mitbürger zu betrachten, deren Anwesenheit schon deshalb willkommen ist, weil sie bei Bedarf einen schönen Anlass zum Granteln bieten. Jedenfalls ist es nicht das schlechteste Zeichen, dass mehr als 40 Prozent der heutigen Einwohner einen ausländischen Pass oder zumindest ausländische Wurzeln haben, ohne dass sich allzu viele Idioten darüber aufregen.

Ohnehin wäre es Unfug, die Frage, wer sich rühmen darf, ein echter Münchner zu sein, mit Blick auf den Stammbaum zu lösen. Vermutlich findet sich in der Stadt keine einzige Familie, die schon zugegen war, als Herzog Heinrich der Löwe die Föhringer Brücke abfackeln und einen Markt apud Munichen errichten ließ. Alle sind irgendwann hinzugezogen, sei es aus dem Umland, den ländlichen Fluren Altbaierns, aus Franken, Sachsen oder Preußen gar, aus Frankreich oder dem Habsburger Reich, aus Schlesien, Ostpreußen oder Böhmen, aus Italien, Griechenland, der Türkei, dem Orient oder von Übersee.

Münchens Geschichte ist auch die von Verlierern

Etwas gänzlich Neues, Einzigartiges ist es also nicht, wenn sich heute alle Welt in München niederlässt und es eng wird und teuer, weil das unerbittliche Gesetz von Angebot und Nachfrage die Wohnkosten ins Unermessliche treibt. Und auch wenn der München-Boom gerne als Erfolgsgeschichte gefeiert wird: Er ist auch eine Geschichte von Verlierern, die nach allen Regeln der Marktwirtschaft verdrängt werden, weil andere den dickeren Geldbeutel haben.

Wer die ersten Münchner waren, wie sie hießen und was sie trieben: Man weiß es nicht, jedenfalls nicht genau. Verbürgt ist hingegen: Der von Heinrich dem Löwen um 1158 gegründete Marktflecken wuchs rasch zu einer größeren Siedlung, die bald mit einer ersten Befestigungsanlage umsäumt wurde. Der Salzhandel, aber auch der Handel mit Wein, Tuch, Eisen und exotischen Spezereien brachte Geld in die mittelalterliche Stadt, in der sich neben den Händlern auch Handwerker jedweden Typs sowie die unvermeidlichen Wirtsleute ansiedelten.

Auch eine jüdische Gemeinschaft gab es in München, Geldverleiher, deren Kredite den Fernhandel am Laufen hielten - ein Geschäft, das Neid erweckte. Im Jahr 1285 ermordete der Mob mindestens 60 Münchner Juden. Der Anlass war frei erfunden, angeblich hätten Juden einen Ritualmord an einem Kind begangen. Mit dieser absurden Legende wurden Pogrome in vielen Städten gerechtfertigt.

Im 14. Jahrhundert erwies sich der Befestigungsring, der die florierende und mittlerweile zur herzoglichen Residenz erkorene Stadt umgab, als zu klein. Der neu errichtete Mauerring umfasste 91 Hektar, zuvor waren es lediglich 16 Hektar gewesen. Ein Magnet, der immer mehr Menschen in die Stadt zog, war der herzogliche Hof, der in der Regierungszeit Ludwigs des Bayerns zum kaiserlichen wurde, in dem neben Diplomaten und Gesandten auch die von Ludwig aus ganz Europa angeheuerten Gelehrten ein- und ausgingen.

Jenseits der höfischen Sphäre aber bestimmten die Patrizierdynastien, meist reiche Kaufleute mit Handelsverbindungen bis nach Venedig, die Geschicke der Stadt. Aristokraten und Patrizier wetteiferten auf dem Feld der glanzvollen Selbstdarstellung, was wiederum Künstler, Kunsthandwerker und Baumeister von weit her an die Gestade der Isar lockte. Nicht wenige kamen aus dem kulturell hoch entwickelten Italien, unter ihnen auch die zahllosen Wanderarbeiter, die in den Ziegelbrennereien vor den Toren Münchens schufteten. Unterschlupf in der Stadt fanden sie nicht, sie mussten in zumeist elenden Unterkünften außerhalb der Mauern leben.

Im 16. Jahrhundert, als die Renaissance in München erblühte, sowie im Zeitalter des Barock und des Rokoko geriet die Stadt zunehmend unter die Fuchtel der absolutistischen Herrscher aus dem Hause Wittelsbach. Deren Prachtentfaltung, die etwa in der Residenz, den Schlössern im Umland oder in Sakralbauten wie die Michaelskirche ihren Ausdruck fand, erforderte abermals den Einsatz von Künstlern und Baumeistern aus nah und fern. Hinzu kamen die weitläufigen klösterlichen Anlagen, die im Zuge der Gegenreformation entstanden. Um 1750 war rund ein Viertel des gesamten Stadtgebiets Klostergrund. Folglich wuchs auch der Klerus, und Bildungseinrichtungen wie die Jesuitenakademie, das Wilhelminum, brachten die junge Garde der gegenreformatorischen Elite in die Stadt.

Die Stadt fraß sich hinein ins Land

Insgesamt stieg die Einwohnerzahl in den dreihundert Jahren zwischen 1500 und 1800 von rund 13 500 auf knapp 40 000, wobei rund ein Viertel dem Hofstaat und dem kurfürstlichen Beamtentum angehörte. Aller Wahrscheinlichkeit wären noch mehr Menschen nach München gezogen, hätten nicht die restriktiven Regeln der Handwerkszünfte, die beispielsweise die Zahl der Meister und der Betriebe begrenzten, die Chancen für eine Einbürgerung erheblich vermindert.

Die Grenzen der Stadt gesprengt hat aber erst die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung im 19. Jahrhundert. Bereits 1791 hatte Kurfürst Karl Theodor angeordnet, die Befestigungsanlagen, welche die Stadt und ihre Bewohner wie in ein Korsett zwängten, abtragen zu lassen. Für ein Areal jenseits des alten Mauerrings entwarf der Hofgartenintendant Friedrich Ludwig von Sckell ein neues mondänes Viertel, die Maxvorstadt, vor dem Sendlinger Tor entstand die Ludwigsvorstadt.

Richtig in Schwung kam die Mutation Münchens zur Großstadt zur Mitte des Säkulums, als sich technisch hochgerüstete Produktionsstätten ansiedelten wie die Lokomotivenfabriken von Joseph Anton Maffei oder Georg Krauss und die Brauereien sich zu industriellen Großbetrieben wandelten. Weil in den ländlichen Regionen Bayerns Not herrschte, versuchten die Menschen aus allen Winkeln des Landes ihr Glück in der Stadt, in München. Nur wenige fanden es, die meisten verblieben in den Elendsquartieren der Vorstädte.

Die Stadt aber fraß sich hinein ins Land, die umliegenden Dörfer wurden nach und nach eingemeindet. 1840 lebten in München rund 95 000 Menschen, siebzig Jahre später waren es 600 000. Die Neumünchner kamen aus dem Oberland, aus Niederbayern, Franken oder der Oberpfalz, aber auch von entfernteren Regionen, wie etwa die Arbeiter der 1916 gegründeten Krupp-Geschützwerke, die man aus dem Ruhrgebiet nach München verpflanzt hatte. Zahlenmäßig eher klein, aber von großer kultureller Bedeutung waren die Bohemiens, die in Schwabing und der Maxvorstadt ihr Wesen trieben. Neben Künstlern aus allen Teilen Deutschlands suchte hier die Avantgarde aus halb Europa, allen voran die Russen Wassily Kandinsky und Alexej von Jawlensky, in der Münchner Belle Époque neue Wege der Kunst und des Lebens.

München, schrieb Kandinsky, war damals ein "sonniges Versprechen", und "ich fühlte mich in einer Kunststadt, was für mich dasselbe war wie Märchenstadt". Für die eingeborenen Münchner und die Zuzügler aus der Oberpfalz oder dem Bayerischen Wald waren die Schwabinger Maler, Dichter und Lebenskünstler, die "Malweiber" und die "Schlawiner", wohl so exotisch wie Buschmänner oder Nordlichter, aber irgendwie kam man miteinander aus, und wenn es nur nach der Methode "Gar ned ignorieren" war.

Dieses Märchenmünchen verschwand im Krieg, und im reaktionären Muff der Zwanzigerjahre hatte es keine Chance, sich zu erneuern. Dann kam Hitler, und im völkischen Wahn der Nazis wurde von Amts wegen festgelegt, wer dazu gehörte und wer nicht - mit oft tödlichen Folgen für die Ausgegrenzten. Am Ende war die Stadt, in der im Laufe ihrer Geschichte so viele Menschen heimisch geworden waren, nicht wiederzuerkennen. Buchstäblich, denn sie lag in Trümmern.

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