Zusteller:Wenn ein Flüchtling die Zeitung bringt

Zusteller: Zafar Iqbal hat sein Fahrrad vom Verlag geleast. Nachts gehört die Straße ihm allein.

Zafar Iqbal hat sein Fahrrad vom Verlag geleast. Nachts gehört die Straße ihm allein.

(Foto: Robert Haas)

Zafar Iqbal ist einer von etwa 1200 Zustellern im Großraum München. Er kam als Flüchtling aus Pakistan, wo er Milch ausfuhr. Jetzt bringt er Abonnenten ihre Zeitungen.

Von Martina Scherf

Die Nacht beginnt mit Warten. Drei Menschen sitzen an einer Parkbucht in der Tegernseer Landstraße und hoffen, dass es bald los geht. Es ist zwei Uhr morgens, der Lieferwagen mit ihrer ersehnten Ware sollte längst da sein. Doch noch ist die Straße leer.

Zafar Iqbal lehnt sich auf sein Fahrrad und schaut abwechselnd aufs Handy, wo ihn seine kleine Nichte vom Foto anlächelt, und auf die beleuchtete Kreuzung. Je später der Fahrer aus der Druckerei eintrifft, desto später kommen sie los, und das bedeutet nicht nur weniger Schlaf, sondern auch einen geringeren Stundenlohn.

Nachtarbeit ist nicht jedermanns Sache, schon gar nicht auf der Straße. Zeitungszusteller werden dringend gesucht. Etwa 1200 von ihnen sind jede Nacht in München und dem Landkreis unterwegs. Iqbal kam als Flüchtling vor eineinhalb Jahren aus Pakistan nach München, er ist froh, diesen Job ergattert zu haben und macht seine Arbeit sehr gewissenhaft, sagen seine Vorgesetzten. Die Kollegin, die jetzt mit ihm wartet, ist seit drei Jahren dabei. Sie sagt, man gewöhnt sich an die Arbeit. Manche Viertel sind ihr lieber als andere, in der Innenstadt sei es angenehmer, da sind auch nachts noch zu jeder Stunde Menschen unterwegs.

Iqbal hört zu, aber noch versteht er nicht viel. Für alle Fälle hat er einen Landsmann, "my Pakistan brother", den kann er anrufen, wann immer nötig. Er ist Koch, schon lange in München und übersetzt, auch nachts. Funktioniert einwandfrei. 38 Jahre ist Iqbal alt, ein stämmiger Mann mit freundlichem Gesicht und pechschwarzen Haaren. In seiner Heimat fuhr er Milch aus, mit einem Lastwagen, erzählt er. Jetzt liefert er den Münchnern ihre Zeitungen.

Manche Namensschilder sind schwer zu entziffern

Da biegt endlich der Transporter in die Einfahrt, und plötzlich geht alles ganz schnell. Die drei Zusteller stapeln die Zeitungspakete unter dem Vordach einer Apotheke, der Fahrer verabschiedet sich, dann ist er auch schon wieder weg. Iqbal sortiert die Zeitungen in seinen Fahrradanhänger. SZ, Merkur, tz, AZ, Bild, Welt, und ein paar FAZ. Er überträgt die Informationen vom Begleitzettel in ein grünes Buch: neue Abonnenten, Urlaubsabwesenheiten, Beschwerden, mit den Straßen, Hausnummern, Stockwerken, Namen. Dann tritt er in die Pedale. Es ist 2.45 Uhr.

Die erste Tour führt rund um die St.-Martin-Straße. Ein Lastwagen fährt Semmeln aus, irgendwo ertönt die Sirene eines Krankenwagens. Sonst ist es ruhig. Am ersten Hauseingang zückt Iqbal den dicken Schlüsselbund und das grüne Buch. Manche Namensschilder sind schwer zu entziffern, zumal wenn deren Träger nicht Huber oder Maier heißen, sondern Zitzelsberger oder Weichselbaumer, MacGregor oder Bartoschewski. Manche Wohnungstüren haben auch überhaupt keinen Namen. Aber wenigstens gibt es in diesen Häusern Aufzüge. "Lucky", sagt Iqbal.

Hinter etlichen Fenstern brennt Licht. Eine junge Frau steht hinterm Vorhang und telefoniert. Woanders läuft ein Fernseher, jemand hantiert in der Küche. Es ist 3.30 Uhr. Was treibt diese Menschen um? Iqbal hat keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Konzentriert schiebt er sein Fahrrad durch die Nacht.

Die Münchner Zeitungsverlage haben den gemeinsamen Vertrieb in Bezirke aufgeteilt. Der Süddeutsche Verlag ist auch für Obergiesing zuständig. Iqbal hat sein gebrauchtes Fahrrad vom Verlag geleast, für 20 Euro im Monat, nach sechs Monaten gehört es ihm. Anfangs hatte er eine feste Tour, sagt er, und war in drei Stunden fertig. Weil er gut arbeitete, ist er jetzt Springer und übernimmt fremde Touren, das ist schwieriger, aber besser bezahlt.

München bei Nacht, das sei so friedlich und ruhig, sagt er. Überhaupt fühlt er sich wohl in der Stadt. Nur manchmal wundere er sich. Über nackte Frauen im Englischen Garten, das hat ihn erschreckt, "da geh ich jetzt nicht mehr hin". Oder über zwei Lesben, die sich in dem Lokal, in dem sein Freund und Übersetzer arbeitet, über die "Ehe für alle" unterhielten. "Das geht doch zu weit", findet er. Und als braver Moslem wollte er anfangs einmal auf einem öffentlichen Platz beten, er legte seinen Rucksack neben sich, da kam die Polizei und bat ihn, das lieber woanders zu tun. Nun ja, sagt er: "Ich muss Deutschland eben erst noch besser kennen lernen."

Um 4.30 ist die erste Tour beendet

Nachts irritiert ihn nichts, da ist er allein auf der Straße. Im Treppenhaus des Altbaus, der jetzt dran ist, riecht es nach Bohnerwachs. Zweimal WT steht im grünen Buch, "Wohnungstüre": Iqbal muss die Zeitung im vierten Stock vor den Eingang legen. "Seit ich diesen Job mache, habe ich fast 20 Kilo verloren", sagt er und grinst. Er ist keineswegs dünn, aber dafür recht schnell. Treppe rauf, Treppe runter, weiter zum nächsten Haus.

In Pakistan sei er oft krank gewesen, erzählt er, in Deutschland noch nie. Nur sein Bein musste er sich operieren lassen. Er schiebt den Hosenbund ein wenig von der Hüfte nach unten und zeigt die erste von sechs Schusswunden. An der Wade ist die letzte zu sehen. Bei einem Überfall vor zwei Jahren saß er auf dem Motorrad, sein jüngerer Bruder, der hinter ihm saß, starb, er selbst überlebte.

"Die Polizei schützt dich nicht in Pakistan", sagt er. Deshalb ist er geflohen. Er vermisst seine Mutter und seine Geschwister, "ist nicht leicht". Heiraten durfte er nicht, bevor die Schwestern unter der Haube waren. Die Mitgift ist teuer. Er versucht jetzt, Geld zu schicken. Es wäre schön, sagt er noch, in Deutschland eine Frau zu finden.

Die Ampel an der nächsten Straßenkreuzung ist rot, und Iqbal wartet geduldig, bis es grün wird, mitten in der Nacht. Kein Auto fährt vorbei. Nur ein schwarzer Kater huscht über den Fußgängerüberweg, er schert sich nicht um Ampeln.

Um 4.30 ist die erste Tour beendet, es geht zurück zur Sammelstelle in der Tegernseer Landstraße. Die Nachtlinie der Tram ruckelt vorbei, Iqbal lädt den Anhänger wieder voll, schwingt sich aufs Rad und rollt zügig den Nockherberg hinunter, unten geht es scharf links in die Nockherstraße. Es dämmert, und wie auf Knopfdruck beginnen die Vögel in den Bäumen und Gärten zu zwitschern.

Die Nockherstraße mit ihren kleinen Häusern, die sich an den Hang ducken, ist ein Überbleibsel der alten Au. Viele Abonnenten gibt es hier nicht, aber ein kleines Hotel mit mehreren Abos - und einen neuen SZ-Leser: NZ steht hinter dem Namen im Buch, "Neuzustellung". Dann tauchen die ersten Schichtarbeiterinnen - es sind tatsächlich nur Frauen - auf und gehen zur U-Bahn am Kolumbusplatz. 5.20 Uhr, die Sonne geht auf, der Verkehr nimmt langsam zu.

Sein Zuhause ist eine Flüchtlingsunterkunft

Es fängt jetzt an zu regnen und in der unteren Au stehen viele Häuser ohne Lift. Zwei Zeitungen packen, Schlüssel suchen, rauf bis in den fünften Stock, wieder runter, nächster Eingang. Im Wohnstift Entenbach warten 150 grüne Briefkästen. Senioren sind offensichtlich treue Leser, SZ und Merkur, tz, AZ, alles ist dabei. Mühsam sucht Iqbal die Namensschildchen, das dauert, und er ist in dieser Nacht ohnehin schon später dran. "Very late", stöhnt er.

Heute wird er wohl erst gegen acht Uhr nach Hause kommen. Sein Zuhause, das ist eine Flüchtlingsunterkunft im Münchner Norden. Ein bisschen schläft er am Vormittag, dann kocht er sich etwas, am liebsten Biryani mit Hühnchen, Reis und scharfen Gewürzen, und geht später zu einem pakistanischen Freund, der einen Kiosk in der Innenstadt hat. Dort studiert er die Münchner und ihre Gewohnheiten und lernt ein wenig Deutsch.

Der Tag bricht an, München erwacht. Ein paar Jogger drehen ihre Runden. Der Zeitungszusteller kommt auch ohne Jogging ins Schwitzen. Er gibt sein Bestes, aber er wird die Verspätung vom Beginn nicht mehr aufholen. Die letzten Abonnenten bekommen heute ihre Zeitungen um sieben Uhr. "Manche Leute schimpfen, aber andere sind dafür freundlich. So ist es halt", sagt Iqbal und gibt nochmal Gas auf seinem Fahrrad.

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