Zusammenleben:Selbständig wohnen

Seit 40 Jahren leben Menschen mit Behinderungen im Einrichtungsverbund Steinhöring in betreuten WGs

Von Johanna Feckl, Steinhöring

"Menschen mit Behinderungen sollten in demselben Umfeld leben wie Menschen ohne Behinderung." Das war die Kernidee der Außenwohngemeinschaften des Einrichtungsverbunds Steinhöring (EVS), die in diesem Jahr ihr 40-jähriges Bestehen feiern. Denn die Lebensumstände seien ein entscheidender Faktor dafür, wie lange beispielsweise ein Mensch mit Down-Syndrom zu leben habe, erklärt Werner Retzlaff, der Leiter der Außenwohnanlagen.

16 Wohngemeinschaften gibt es in Steinhöring, Grafing, Zorneding und Ebersberg

"Früher haben Menschen mit Behinderungen immer nur in Anstalten gelebt", sagt Retzlaff. Das bedeutet: Sich zu zweit oder zu dritt ein Zimmer teilen, kaum Privatsphäre, keine oder nur sehr wenig eigene Gestaltungsmöglichkeiten der Räumlichkeiten, rund um die Uhr umsorgende Pflegekräfte. Also ein Leben in einer Art Krankenhausatmosphäre. Als sich in der medizinischen Forschung die Ansicht durchsetzte, dass sich genau diese unselbstständige Lebensweise negativ auf die Lebenserwartung auswirke, gründete der EVS (damals noch Betreuungszentrum Steinhöring) 1977 seine erste ausgelagerte Wohngruppe in der Steinhöringer Frühlingsstraße. Diese gibt es zwar mittlerweile nicht mehr, dafür insgesamt 16 andere Wohngemeinschaften im Landkreis: in Steinhöring, Zorneding, Ebersberg und Grafing. Und im September kommt noch eine weitere Einrichtung in Poing dazu.

Zusammenleben: Rudi Niedermeier und Adi Kügele können sich über mehr Eigenverantwortlichkeit freuen. Sie leben in einer betreuten Wohneinrichtung des Betreuungszentrums in Grafing. 1977 entstand die erste dieser Wohngemeinschaften; zuvor gab es vor allem Anstalten mit Pflege rund um die Uhr.

Rudi Niedermeier und Adi Kügele können sich über mehr Eigenverantwortlichkeit freuen. Sie leben in einer betreuten Wohneinrichtung des Betreuungszentrums in Grafing. 1977 entstand die erste dieser Wohngemeinschaften; zuvor gab es vor allem Anstalten mit Pflege rund um die Uhr.

(Foto: Christian Endt)

Der 60-jährige Rudolf Niedermeier kann sich noch sehr gut an die alten Zeiten erinnern, in denen ihm als Mensch mit Behinderung noch nicht so viel Eigenverantwortung zugetraut wurde. 1972 zog er als Bewohner in ein Zweibettzimmer der intensiv betreuten Wohnanlage auf dem Gelände des EVS. Seit 1981 lebt er in einer der Außenwohngemeinschaften, mittlerweile in Grafing. "Hier kann ich selbständiger sein und viel mehr Sachen machen", sagt er. So geht er gerne ins Kino oder kegeln, unternimmt auch schon einmal einen Ausflug nach München mit der S-Bahn. Mit dieser fährt er auch nach Eglharting zu seiner Arbeit.

Zusammenleben: Werner Retzlaff, Leiter der Außenwohnanlagen, und Ottilie Eberle unterstützen die Bewohner im Alltag, wenn sie Hilfe brauchen.

Werner Retzlaff, Leiter der Außenwohnanlagen, und Ottilie Eberle unterstützen die Bewohner im Alltag, wenn sie Hilfe brauchen.

(Foto: Christian Endt)

Adi Kügele lebt seit 1994 in der Grafinger Wohngemeinschaft. Auch ihm gefällt diese Unterkunftsform sehr gut. "Mit mehreren in einem Zimmer leben, das ist mir zu laut", sagt er. Natürlich sei das Wohnkonzept nicht für jeden beeinträchtigten Menschen das richtige, sagt Retzlaff. Er spricht von einem Kompetenzprofil: "Die mit einem hohen Hilfsbedarf wohnen direkt in Steinhöring, wo sie sehr zeitintensiv und auch nachts betreut werden." Ausgelagerte Wohngemeinschaften seien für Menschen passend, die auf weniger Unterstützung im Alltag angewiesen sind. "Aber manchmal brauchen wir eben schon auch Hilfe", räumt Kügele ein.

Deshalb gibt es Ottilie Eberl und ihre Kolleginnen und Kollegen. Sie ist morgens bei den Bewohnern, bevor sie das Haus verlassen, und abends, wenn sie von ihren Arbeitsstätten wieder nach Hause zurückkehren. "Manche brauchen unsere Unterstützung zum Beispiel bei der Einnahme ihrer Medikamente oder wenn Briefe von Behörden kommen", erklärt die 63-Jährige. Den Wohnungen und Häusern der Außenwohngemeinschaften sieht man von außen nicht an, dass hier Menschen mit Behinderungen leben. "Unsere Leute stehen morgens genau wie alle anderen an der Bushaltestelle oder am Bahnhof, um in die Arbeit zu fahren", sagt Eberl. Weshalb sollten sie also nicht auch in demselben Umfeld, ganz ohne äußerliche Besonderheiten wohnen?

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