Zum Tod von Georg Kronawitter:Ein Schorsch wie du und ich

Er war der Oberbürgermeister der kleinen Leute und zugleich ein gewiefter Wahlkämpfer - nun ist Georg Kronawitter mit 88 Jahren gestorben

Von Peter Fahrenholz

Oft verraten die kleinen Szenen mehr über einen Politiker als seine öffentlichen Auftritte. Wer zum Beispiel wissen will, wie Georg Kronawitter es geschafft hat, einen Draht zu den Leuten herzustellen, der kommt an der Geschichte mit den Moosröschen nicht vorbei. Sie spielt Anfang 1984. In München regiert zum ersten Mal seit dem Krieg die CSU, und ihr zur Großspurigkeit neigender Oberbürgermeister Erich Kiesl ist sich ganz sicher, dass er auch weiterhin im Rathaus das Sagen haben würde. Derweil steht in der Münchner Fußgängerzone unentwegt ein schmaler Mann und verteilt im Schneeregen Moosröschen an die Passanten. Immer wieder ergibt sich eine Unterhaltung, mal kürzer, mal länger. Ein paar Wochen später ist Schorsch Kronawitter Oberbürgermeister. Er zwingt Kiesl bei der Kommunalwahl erst in eine Stichwahl und siegt dort dann haushoch.

In der Riege der Münchner SPD-Oberbürgermeister kommt Kronawitter immer etwas stiefmütterlich weg. Der eher unscheinbare Mann mit dem Lausbubenlächeln war nicht so volkstümlich wie Thomas Wimmer, nicht so brillant wie Hans-Jochen Vogel und nicht so weltläufig-urban wie Christian Ude. "Kronawichtl" nannten ihn seine Gegner, von denen nicht wenige in der eigenen Partei saßen.

Dabei brauchte sich Kronawitter, der München insgesamt 15 Jahre lang regiert hat, mit seinen Wahlerfolgen keineswegs verstecken. Im Gegenteil, der Sieg gegen Kiesl im Jahr 1984 war nicht nur einer der spektakulärsten Erfolge in der Geschichte der Münchner SPD - einen amtierenden OB kann man normalerweise nur schwer aus dem Rathaus vertreiben. Es war auch das wohl spektakulärste Comeback, das ein deutscher Politiker je gefeiert hat.

Denn Kronawitter war von seiner eigenen Partei in den Wirren der Münchner SPD-Grabenkämpfe der Siebzigerjahre nach einer Amtsperiode in die Wüste geschickt worden. Er galt der Parteilinken als nicht mehr vermittelbar. Prompt geriet die Kommunalwahl 1978 für die SPD zum Desaster, plötzlich regierte die CSU mit absoluter Mehrheit. Und Kronawitter war mit 50 Jahren Frührentner.

Schon dass Kronawitter, der arme Bauernsohn aus Oberthann bei Pfaffenhofen, überhaupt OB werden konnte, hat viel mit den Flügelkämpfen der SPD zu tun, die den glanzvollen Amtsinhaber Hans-Jochen Vogel so entnervt hatten, dass er 1972 nicht für eine weitere Amtszeit zur Verfügung stehen wollte. Kronawitter, damals Agrarexperte der SPD-Landtagsfraktion, hatte sich durch eine heftige Fehde mit dem Großgrundbesitzer August von Finck einen Namen gemacht. Vogel konnte ihn deshalb auch dem linken Flügel als OB-Kandidaten schmackhaft machen, der sich in jenen Jahren in wilder Kapitalismuskritik erging.

Georg Kronawitter beim SPD Sonderparteitag in Augsburg

So viel Chuzpe und taktische Wendigkeit er im politischen Geschäft auch an den Tag legte, so unbeirrt verfolgte Kronawitter seinen politischen Grundsatz: mehr Gerechtigkeit.

(Foto: Werek/Imago)

Ein linker Theoretiker war Kronawitter natürlich mitnichten. So war das Zerwürfnis zwischen ihm und der streitsüchtigen Partei eigentlich nur ein Frage der Zeit. Doch wie sich Kronawitter zurück an die Spitze kämpfte, ist ein einzigartiges Lehrstück darüber, was sich mit politischer Graswurzelarbeit erreichen lässt, wenn man nur genügend Ausdauer und Geduld hat. Kronawitter hat das mehr als einmal selber beschrieben, zuletzt in seinem Buch "Mein eigener Weg", das vor eineinhalb Jahren erschienen ist.

Kronawitter schildert darin, wie er nach der Wahlschlappe von 1978 als politisch Verfemter die erste Versammlung seines SPD-Ortsvereines besuchte und dort die linke Mehrheit so lange provozierte, bis ihm das Wort entzogen wurde. Hinterher haben ihm dann einige Genossen für den Mut gedankt, den sie selber nicht aufbrachten, und Kronawitter notierte sich jede Telefonnummer. Versammlung um Versammlung wuchs die Zahl seiner Unterstützer, bis erst im Ortsverein und dann im Kreisverband die Mehrheit kippte. Und schon 1982, zwei Jahre vor der nächsten Wahl, suchte Kronawitter den damaligen Mieteranwalt Christian Ude auf und eröffnete ihm, er, Kronawitter, werde wieder OB-Kandidat und die Wahl gegen Kiesl gewinnen und Ude solle später sein Nachfolger werden.

Kronawitter war wohl der härteste und ausgebuffteste Wahlkämpfer, den die SPD je hatte. Mit treuherzigem Lächeln konnte er schärfste Attacken gegen seine politischen Gegner reiten, die er ständig wiederholte, bis sie sich in den Köpfen festgesetzt hatten. Gerhard Schröder hatte dazu eine Anekdote parat, die er gerne erzählte. Schröder, zu der Zeit noch nicht Kanzler, sondern niedersächsischer Ministerpräsident, hatte Kronawitter für einen Wahlkampfauftritt gewonnen. Die Regierung Kohl hatte gerade eine Nullrunde für die Rentner beschlossen und Kronawitter zog ein Blatt Papier aus der Sakkotasche und las den herzzerreißenden Brief einer Münchner Kleinrentnerin vor. Schröder, der direkt neben Kronawitter stand, erzählte mit sichtlichem professionellen Respekt, der Münchner OB habe ein leeres Blatt in der Hand gehabt. Kronawitter hat diese Episode stets dementiert, zuzutrauen aber wäre ihm so ein Trick allemal gewesen.

Georg Kronawitter, 2014

"Aber nach 85 Jahren darf ich sagen: Die meisten Ziele, die ich mir gesteckt hatte, habe ich am Ende auch erreicht. Und in aller Bescheidenheit: Mein eigener Weg dorthin war dann doch meist der richtige."

So viel Chuzpe und taktische Wendigkeit er im politischen Geschäft auch an den Tag legte, so unbeirrt verfolgte Kronawitter seine politischen Grundsätze. Sie lassen sich auf jene zwei Worte reduzieren, mit denen sein Vorbild Waldemar von Knoeringen 1962 in den bayerischen Landtagswahlkampf gezogen war: mehr Gerechtigkeit. Kronawitter war ein Kleine-Leute-Sozi, wie es ihn heute in der Partei kaum noch gibt. Unentwegt predigte er, dass die fetten Hammel endlich kräftiger geschoren werden müssten, damit nicht die armen Lämmer alle Lasten tragen müssten. Immer wieder machte er sich dafür stark, die Vermögenssteuer wieder einzuführen. Doch mit seinen Appellen, die SPD müsse die soziale Gerechtigkeit endlich wieder in den Mittelpunkt ihrer Arbeit rücken, fand er auf Bundesebene nur wenig Gehör.

In seiner zweiten Amtszeit von 1984 an musste Kronawitter all seine Raffinesse aufbieten, um sich zu behaupten. Denn durch zwei Überläufer hatte die SPD 1987 ihre Mehrheit verloren, und Kronawitter wurde vom gewieften CSU-Fraktionschef Walter Zöller und dessen so genannter "Gestaltungsmehrheit" immer wieder vorgeführt. Zudem musste er es hinnehmen, dass sich bei der Neuwahl eines Großteils der städtischen Referenten 1988 plötzlich CSU und Grüne verbündeten und die SPD-Kandidaten auf der Strecke blieben. Doch Kronawitter selber behauptete sich, gewann die OB-Wahl im Jahr 1990 überlegen und zeigte danach, dass ihm Rachsucht durchaus nicht fremd war. Weil er sich darüber ärgerte, dass der CSU-Chef Peter Gauweiler bei den Gesprächen über eine Zusammenarbeit von SPD und CSU allzu machtbewusst die Hosenträger schnalzen ließ, schmiedete er zur Verblüffung auch seiner eigenen Genossen ein rot-grünes Rathausbündnis, das dann 24 Jahre gehalten hat.

Wegen seiner Warnungen vor einem überbordenden Wachstum, für das er gerne das Bild vom Dampfkessel München gebrauchte, ist Kronawitter gerne als bieder und provinziell belächelt worden. Kritiker höhnten, der Oberbürgermeister wolle aus der prosperierenden bayerischen Metropole eine grünes Ritzenbiotop machen. Heute wirken seine damaligen Warnungen vor den Schattenseiten des Booms angesichts horrender Mieten und ungelöster Verkehrsprobleme überraschend aktuell.

1993 trat Kronawitter - wieder eines seiner politischen Manöver - völlig unerwartet zurück und hängte noch eine Periode als einfacher Landtagsabgeordneter dran. Danach wurde es zunehmend ruhiger um ihn. Auch wegen gesundheitlicher Probleme zeigte er sich immer seltener in der Öffentlichkeit. Aus der Münchner Tagespolitik hielt er sich heraus - mit zwei Ausnahmen. 2004 zeigte er, dass er von seiner Fähigkeit zur politischen Zuspitzung nichts verloren hatte, und erzwang mit einem Bürgerentscheid, dass in München nur Häuser gebaut werden dürfen, die maximal 99 Meter hoch sind - so hoch wie die Türme der Frauenkirche. Sein Nachfolger Christian Ude, der für höhere Bauten gekämpft hatte, war über diese Niederlage so verbittert, dass er kurzfristig erwog, alles hinzuwerfen.

Und für seine Partei stieg Kronawitter vor zwei Jahren ein letztes Mal in die Bütt. Auf einem turbulenten Parteitag, der sich bis spät in die Nacht hinzog, rang die SPD damit, ob sie sich nach dem Verlust der Mehrheit für Rot-Grün auf ein Bündnis mit der CSU einlassen sollte. Am Schluss behielten die Befürworter knapp die Oberhand und Kronawitter trug mit dazu bei. Er beschwor seine Genossen mit brüchiger Stimme, immer daran zu denken, dass man die eigenen politischen Vorstellungen nur durchsetzen könne, wenn man auch eine Mehrheit habe.

Georg Kronawitter ist am Donnerstagabend im Alter von 88 Jahren gestorben.

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