Zum Kriegsverbrecher-Prozess:"Unzulänglichkeit, keine Schuld"

Massaker in Italien: Vor knapp 40 Jahren wurde ein Verfahren gegen Weihbischof Defregger eingestellt - zum aktuellen Fall Josef S. gibt es Parallelen.

A. Krug

Der weißhaarige alte Herr auf der Anklagebank im Münchner Schwurgericht trägt einen Lodenjanker mit Hirschhornknöpfen, sein Hemd ist am Kragen geöffnet. Für Josef S. wurde ein spezielles Hörgerät angeschafft, das trägt er nun im rechten Ohr. Aus dem Gesicht des 90-Jährigen spricht Verärgerung und Empörung zugleich. Empörung darüber, dass der deutsche Staat ihn nach 64 Jahren vor Gericht zerrt, wo er doch damals als junger Leutnant des Gebirgspionier-Bataillons 818 nur seine Pflicht erfüllt und sich - aus seiner Sicht - nichts hat zuschulden kommen lassen.

Zum Kriegsverbrecher-Prozess: Der 1995 verstorbene Weihbischof Matthias Defregger war 1944 in ein Kriegsverbrechen verwickelt.

Der 1995 verstorbene Weihbischof Matthias Defregger war 1944 in ein Kriegsverbrechen verwickelt.

(Foto: Foto: oh)

Mit dem Auftakt des Prozesses in der vergangenen Woche gegen Josef S. wegen der Erschießung von 14 Zivilisten in dem toskanischen Dorf Falzano di Cortona geraten die Kriegsverbrechen der Wehrmacht in Italien wieder auf die historische und juristische Agenda. Ob es sich diesmal, wie schon so oft prognostiziert, um den letzten großen Kriegsverbrecher-Prozess handelt, muss offen bleiben.

Außer Frage steht indes, dass die juristischen Hürden dieses Verfahrens sehr hoch sind. Denn wie ein Kriegsverbrechen zu ahnden ist, das ist nicht nur heute umstritten. Exemplarisch wird dies an dem Fall des früheren Münchner Weihbischofs Matthias Defregger, der 1969 für Monate die Republik bewegte. Zum Fall von Josef S. gibt es viele Parallelen.

"Hetzkampagne"

Defregger, ein Enkel des Tiroler Malers Franz von Defregger, war im Frühjahr 1944 ebenfalls in Italien stationiert. Er befehligte als Hauptmann die Nachrichtenabteilung der 114. Jägerdivision, einer Truppe, die schon vorher unter anderem Namen (714. Infanteriedivision) ihre Blutspur von Serbien bis nach Griechenland gezogen hatte. Am 7. Juni 1944 erschossen Partisanen vier deutsche Soldaten der Division, die sich in dem kleinen Bergdorf Filetto di Camarda in den Abruzzen, rund 150 Kilometer nordöstlich von Rom, eingerichtet hatten. Als Vergeltung töteten die Deutschen 17 Dorfbewohner im Alter zwischen 17 und 57 Jahren. Der Befehl zur Hinrichtung kam von oberster Stelle. Defregger soll noch versucht haben, diesen Befehl abzumildern, doch letztendlich fügte er sich. Er stellte ein Erschießungskommando zusammen, die Leitung übertrug er einem jungen Leutnant.

25 Jahre lang schwieg Defregger über das Massaker. Er ließ sich zum Priester weihen, wurde Generalvikar der Erzdiözese München und schließlich, 1968, Weihbischof von München. Als der Spiegel im Juli 1969 die Geschichte als Scoop aufbrachte, brach ein Sturm der Entrüstung los - nicht gegen Defregger, sondern gegen den Spiegel. Kritiker unterstellten dem Magazin eine "Hetzkampagne", und die Staatsanwaltschaft forschte nach, aus welcher Quelle das Material stammte.

Die katholische Kirche stellte sich sofort vorbehaltlos hinter Defregger. Nur einen Tag nach der Veröffentlichung erklärte Kardinal Döpfner apodiktisch, dass "kein schuldhafter Tatbestand" vorliege und man Defregger "menschliches Verständnis" nicht verweigern könne. Unterstützung kam von konservativen Kreisen, vor allem von rechts außen. Nationalistische Blätter überschlugen sich in ihrer Wut gegen die "journalistischen Hetzer" und ihre "Treibjagd" gegen Defregger. Der zog sich in ein Kloster zurück und schwieg.

Verschiedene Versionen

Erst knapp zwei Monate später gab er dem Fernsehmagazin Report ein Interview, in dem er vor allem das "Kesseltreiben" gegen seine Person beklagte. Er sprach von einem "Unglück" und "menschlicher Unzulänglichkeit" und bat die Einwohner von Filetto um Vergebung. Gleichzeitig verkündete er, sich "juristisch und vor allem moralisch unschuldig" zu fühlen. In einer Aussage bei der Staatsanwaltschaft verwies er auf seine damalige Notlage: Der Divisionskommandeur habe ihn massiv unter Druck gesetzt und ihm schließlich sogar mit "Erschießen" gedroht, sollte er den Befehl nicht ausführen. Ein Funker, der das Gespräch zwischen Defregger und dem Kommandeur mitgehört haben will, bestätigte diese Version.

"Unzulänglichkeit, keine Schuld"

Doch es gab auch andere Stimmen. Anders als im aktuellen Fall des Josef S. lebten Ende der sechziger Jahre noch viele unmittelbar Beteiligte an dem Massaker. Die Frankfurter Staatsanwaltschaft zeigte zwar keinen besonderen Ehrgeiz, sie ausfindig zu machen. Doch Reporter der Süddeutschen Zeitung fanden damals innerhalb weniger Tage jenen Leutnant, der auf Anweisung Defreggers das Erschießungspeloton zusammenstellen musste. Der ehemalige Offizier, mittlerweile Rektor einer Schule in Rendsburg, bestätigte, dass Defregger versucht habe, den Befehl abzumildern, respektive zu umgehen. Aber er sagte auch: "Er ließ mich mit dieser komplizierten Situation allein, das ist das Einzige, was ich ihm vorwerfe. Er hätte mir diese Last ersparen sollen."

Das jahrzehntelange Schweigen der Täter war gebrochen, mancher wollte wohl auch sein Gewissen erleichtern. Ein Soldat schilderte Defregger als "ziemlich scharf". Ein einfacher Gefreiter wurde noch deutlicher. Die 114. Jägerdivision sei eine "rücksichtslose Truppe" gewesen, "Vergewaltigung und Notzucht waren an der Tagesordnung". Er könne sich noch an ein Massaker in Italien an harmlosen Hirtenjungen erinnern, denen man Vieh weggenommen hatte. "In diesem Chaos handelte jeder Offizier aus eigener Verantwortung, keiner kann sich auf höheren Befehl hinausreden", meinte der Soldat. Seiner Ansicht nach hätte Defregger "nur den Mund halten und den Befehl nicht weitergeben müssen".

Auch Defreggers damaliger Bursche meinte, dass viele andere Offiziere sein Verhalten missbilligt hätten. "Wie konnten sie das kurz vor Toresschluss noch machen", lautete der Vorwurf. Die Einheit wurde nur zwei Wochen nach dem Massaker von den Amerikanern festgenommen.

"Repressalie" statt Hinrichtung

Die Frankfurter Staatsanwaltschaft schien nie sonderlich erpicht darauf, das Verfahren gegen Defregger voranzutreiben. Nach einer ersten Verfahrenseinstellung im Mai 1969 und der Wiederaufnahme nach dem Spiegel-Artikel stellte sie die Ermittlungen im August 1969 zum zweiten Mal ein. Defregger habe "nur einen Befehl weitergegeben", so die Begründung von Oberstaatsanwalt Dietrich Rahn. "Dabei handelt es sich um einen Befehl, der nicht auf niedrigen Beweggründen beruhte. Also konnte die Tötungshandlung, soweit dieser Befehl in Frage steht, überhaupt nur einen Totschlag darstellen."

Totschlag aber war zum damaligen Zeitpunkt bereits verjährt. Rahn ergänzte noch, dass "Geiselerschießungen (...) auch in anderen Staaten praktiziert und häufig als rechtmäßiges letztes Mittel anerkannt wurden, um Ruhe und Ordnung herzustellen". Erst später wurde bekannt, dass Oberstaatsanwalt Rahn im Krieg als Feldkriegsgerichtsrat gedient hatte.

Nach einer Beschwerde hob die hessische Generalstaatsanwaltschaft die Einstellung wieder auf und gab das Verfahren an die Münchner Staatsanwaltschaft ab. Dort kam es im September 1970 zur endgültigen Einstellung des Verfahrens. Die Hinrichtung sei eine vom damaligen Völkerrecht gedeckte "Repressalie" gewesen, hieß es in dem 60-seitigen Beschluss. Defregger habe den Befehl befolgen müssen, da bei Nichtbefolgung eine "unmittelbare Lebensgefahr" bestanden hätte (Befehlsnotstand). Den "verbrecherischen Charakter" des Befehls habe er als "rechtsunkundiger Offizier" nicht erkennen können.

Nach der Exkulpierung durch die Justiz trat Defregger von seinem Amt als Regionalbischof zurück und ließ sich vom Kardinal das Ordensreferat übertragen. Danach wurde es still um den Weihbischof. Dass er unter dem Geschehen litt, ist glaubhaft. Besucht hat er Filetto aber nie, jedenfalls ist davon nie etwas bekannt geworden. Dafür zelebrierte er 1973 eine Feldmesse in Tölz für die Kameraden von der Jägerdivision. Als Defregger 1995 starb, las ein Pfarrer in Filetto als "Geste einer Versöhnung" eine Totenmesse für ihn. Die verbitterten Einwohner blieben der Messe fern, nur vier erschienen zu dem Gottesdienst.

Zeitzeugen fehlen

Ob Josef S. Defregger persönlich kannte, ist nicht bekannt. Ihre Einheiten lagen damals im Juni 1944 relativ weit voneinander entfernt. Auch Josef S. schwieg Jahrzehnte über seine Vergangenheit. Auch er war damals ein junger Leutnant, auch er soll den Befehl zur Hinrichtung der Zivilisten an einen (bislang unbekannten) Untergebenen weitergegeben haben. Im Unterschied zum Fall Defregger aber kann die Staatsanwaltschaft diesmal kaum noch auf Zeitzeugen zurückgreifen. Defregger hat seine Schuld, wenn auch eingeschränkt, eingestanden, Kompanieführer Josef S. bestreitet, überhaupt "Kenntnis" von dem Massaker gehabt zu haben.

Glaubwürdig ist diese Einlassung nicht. Aber vielleicht geht es dem 90-Jährigen auch nur so wie dem Literaturnobelpreisträger John Steinbeck, der über seine Kriegserlebnisse und deren schleichendes Verdrängen einmal gesagt hatte: "Wenn du aufwachst und an das Geschehene zurückdenkst, erscheint es fast wie ein Traum. Du versucht dich auf Einzelheiten zu besinnen und schaffst es nicht mehr. In deiner Erinnerung verfließen die Konturen. Einen Tag später entgleiten noch mehr Tatsachen, bis fast nichts mehr übrig ist." Am Montag wird der Prozess gegen Josef S. fortgesetzt.

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