Zukunft der KZ-Gedenkstätten: "Die Menschen sollten sehen, was wir erleiden mussten"

Erdhütten in einem KZ-Außenlager bei Kaufering. Aufnahme vom 29. April 1945 nach der Befreiung durch die US-Armee.

Die Erdhütten des KZ-Außenlagers Kaufering sind längst verschwunden. Hier zu sehen ein Foto des Außenlagers IV nach der Befreiung durch die US-Armee.

(Foto: Quelle: Wikimedia commons)
  • In Dachau diskutieren Experten derzeit über Aufgaben und Zukunft der Erinnerungsorte.
  • Rückschau und museale Verwaltung allein sind für die Aufklärungsarbeit zu wenig.
  • Doch der Umgang mit baulichen Überresten ist umstritten - ein Beispiel ist die gestohlene KZ-Tür, die durch eine Kopie ersetzt wurde.

Von Helmut Zeller

Ein finsteres Loch. 50 und mehr Männer krochen nach zwölf Stunden Sklavenarbeit in diesen Erdbunker. Regen und Schnee drangen durch das Dach. Die erschöpften und hungernden Häftlinge lagen auf feuchtem, schmutzigen Stroh. Der winzige Ofen gab kaum Wärme, Eiszapfen hingen von der Decke herab. Uri Chanoch war 16, als er monatelang in diesem Verlies ausharren musste. Die Erdhütten des KZ-Außenlagers Kaufering I sind längst verschwunden. Aber die Bilder bekommt der 87-Jährige nicht aus seinem Kopf. "Die Menschen sollten sehen, was wir erleiden mussten." Deshalb fordert er nun schon seit zehn Jahren den Nachbau einer Erdhütte in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Die Historiker wehren ab. Sie wollen die Authentizität des Orts bewahren.

42 500 NS-Lagerorte wurden auf europäischem Boden gezählt. Sie sollen erhalten bleiben. Aber wie? Bei deutschen Wissenschaftlern sind Rekonstruktionen verpönt. Der richtige Umgang auch mit den baulichen Überresten führt immer wieder zu Diskussionen. Die Gedenkstätte in Dachau hat bei ihrer Neugestaltung im Jahr 1996 eine klare Antwort formuliert: keine Rekonstruktionen, keine künstlerische oder architektonische Überformungen. Jetzt aber hat die bayerische Gedenkstättenstiftung eine Zäsur gesetzt.

Auf Wunsch von Überlebenden wurde die gestohlene KZ-Tür in Dachau durch eine originalgetreue Kopie ersetzt. Gedenkstättenleiterin Gabriele Hammermann war entsetzt und mochte den Stiftungsratsbeschluss gar nicht akzeptieren. Andere Historiker wie Jörg Skriebeleit, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Gedenkstätten in Deutschland, rückten - in diesem Fall - jedoch von der reinen Lehre ab. Die zynische Naziaufschrift "Arbeit macht frei" war ohnehin eine Kopie.

Gedenkorte als Erlebnisparks

Was wäre also so schlimm an einer nachgebauten Erdhütte? Jede Rekonstruktion, die als solche nicht deutlich gemacht wird, verwandelt die Gedenkorte in eine Art Erlebnispark. Sagen Wissenschaftler. Ihre Furcht vor einer Disneysierung der Erinnerung ist mit Blick auf mediale Kitschproduktionen nicht unbegründet. Doch die viel beschworene Authentizität birgt immense Probleme. Nach Kriegsende verfielen KZ-Gebäude, oder sie wurden abgerissen, umgebaut, nachgenutzt - etwa der "Kräutergarten", Himmlers Bio-Plantage in Dachau. Auf dem größten Teil des Areals stehen heute Industrie- und Gewerbebetriebe.

Andere Beispiele: Die Wohnsiedlung, die in den Fünfzigerjahren mitten im früheren Häftlingslager des KZ Flossenbürg errichtet wurde. Oder ein Täterort, das Parteitagsgelände in Nürnberg: Teile des Riesenareals wurden umgenutzt oder gesprengt und weggeräumt - und damit auch gleich die unliebsame Vergangenheit. Auf dem Königsplatz in München erinnert nichts an die "Hauptstadt der Bewegung". Die KZ-Außenlager gerieten erst nach Jahrzehnten in den Blick, als vieles schon verfallen oder unter Beton begraben war. Mutwillige Zerstörung reicht bis in die Gegenwart hinein: Der KZ-Steinbruch in Flossenbürg wird noch heute privatwirtschaftlich genutzt.

Die zentrale Bedeutung des "authentischen Orts" für die Erinnerung und gegen das Vergessen, die Leugnung oder Relativierung von Naziverbrechen bleibt. Wer glaubt, das sei doch vorbei, täuscht sich. Die Versuche kommen heute zwar selten so plump daher wie einst die Lüge, die Krematorien in Dachau seien erst von den amerikanischen Befreiern erbaut worden. Geschichtsfälschung macht heute Opfer zu Tätern und umgekehrt. Dagegen legen die ehemaligen Lager Zeugnis ab. Aber reicht das?

Im Authentizitätsdiskurs zeichnet sich ein Perspektivenwechsel ab. "Authentisch sollten wir die Orte der ehemaligen Konzentrationslager über 70 Jahre nach der Befreiung wirklich nicht mehr nennen." Alexander Schmidt, Lehrbeauftragter der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, spricht in einem Aufsatz von "historischen Orten". "Man sollte das Schwinden von Authentizität nicht nur als Verlust, sondern auch als Gewinn begreifen: Die historischen Orte erzählen nicht nur weniger, sondern an anderer Stelle mehr, nämlich den Umgang mit ihnen nach 1945." Dazu gehören auch Memorialisierung und Musealisierung der Orte.

Jeder fünfte Deutsche unter 30 kennt Auschwitz nicht

Die Gedenkstätten stehen schließlich noch vor einem unauflösbaren Paradox: Um originale Gebäude zu erhalten, muss in ihre Bausubstanz eingegriffen werden. Die Auschwitz-Überlebende und Schriftstellerin Ruth Klüger schrieb über Dachau: "Da war alles sauber und ordentlich . . . Das Holz riecht frisch und harzig, über den geräumigen Appellplatz weht ein belebender Wind und diese Baracken wirken fast einladend. Was kann einem da einfallen, man assoziiert eventuell eher Ferienlager als gefoltertes Leben."

Zum Sehen muss das Wissen kommen. Entgegen der landläufigen Annahme evoziere der "authentische Ort" nicht schon an sich die "Präsenz unverfälschter Geschichte", erklärt Jörg Skriebeleit, Leiter der Gedenkstätte Flossenbürg. Das beschworene "Gedächtnis der Orte" sei eher ein Gedächtnis an Ereignisse, die sich mit gewissen Orten verbinden. Anders ausgedrückt: Steine sprechen nicht.

Eine Überbewertung der Authentizität löst nicht die Probleme des Bildungsauftrags, den die Gedenkstätten haben. Der steht vor neuen Herausforderungen: die wachsende zeitliche Distanz zu den Naziverbrechen, das Verschwinden der Zeitzeugen, die Folgen aus der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten mit ihren gegenläufigen Gedächtnissen, die Perspektive der Migrantenkinder auf die Vergangenheit. Allein können das KZ-Gedenkstätten nicht schaffen - dazu braucht es Erinnerungsarbeit in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. Im Zentrum aber bleibt der Ort als "Medium für die Konstruktion kultureller Erinnerungsräume", wie Skriebeleit es ausdrückt. Jede Generation stellt neue Fragen an die Geschichte.

Zum Sehen muss das Wissen kommen

Darauf reagieren die Gedenkstätten zwar mit neuen Bildungsangeboten. Aber ihr Einfluss auf das kollektive Gedächtnis scheint zu schwinden. Einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung zufolge wollen 81 Prozent der Deutschen die Geschichte der Judenverfolgung "hinter sich lassen". Jeder fünfte Deutsche unter 30 kennt Auschwitz nicht. Dem müssen sich KZ-Gedenkstätten, die Gefahr laufen, zu Museen zu werden, stellen.

Sie müssen in der Gegenwart ankommen und dazu den Umgang mit der Vergangenheit nach 1945 erzählen - anhand der auch authentischen Spuren bewusster Zerstörung und des Zerfalls oder nachträglich errichteter Bauwerke wie Kirchen, Mahnmale und Denkmäler. Der amerikanische Historiker Harold Marcuse verlangt, die "Rezeptionsspuren" sichtbar zu machen. Nicht alle Überreste könnten erhalten oder rekonstruiert werden. Er legt den Fokus auf Auswahl und Art der Konservierung. Denn dies habe "entscheidenden Einfluss auf die Botschaft und Wirksamkeit des Gedenkorts".

Stiftungsdirektor Karl Freller ermuntert zu politischer Auseinandersetzung: "Eine KZ-Gedenkstätte muss, ohne den Holocaust zu relativieren, Fragen und Antworten zu heutigen Menschenrechtsverletzungen und Genoziden formulieren." Marcuse geht einen Schritt weiter. Er plädiert für eine demokratische Teilhabe vor allem der jüngeren Generation an der Gedenkstättenarbeit. Im Gegensatz zu seinen deutschen Kollegen trennt er Emotionen nicht von der Wissensaneignung.

Die Enkelin eines Dachau-Überlebenden habe ihm erzählt, dass ihr die Realität der Verfolgung erst dann klar wurde, als sie sich in eines der nachgebauten Bettgestelle der zwei nachgebauten Häftlingsbaracken aus den Sechzigerjahren legte. Das lässt Uri Chanoch hoffen. Immer wieder fordert er im Stiftungsrat den Nachbau einer Erdhütte. "Wenn sie denken, jemand ist so dumm zu glauben, das sei ein Original, dann sollen sie eine Informationstafel hinhängen."

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