Wolfratshausen:Zur Erinnerung und Mahnung

Hans Reiser hat ein ungewöhnliches Projekt umgesetzt: Der Wolfratshauser hat die Geschichte seiner Familie aufgeschrieben und zu einem Buch gemacht. Das verteilt er nun nicht nur an Freunde - sondern auch an Fremde

Von Pia Ratzesberger, Wolfratshausen

Kein Licht soll mehr nach außen dringen, alle Fenster dunkel bleiben. Feindalarm, bald schon werden die Alliierten mit Bomben die Munitionsfabriken im Forst in Flammen aufgehen lassen, fürchtet man in Wolfratshausen. Die Dunkelheit der Nacht soll deshalb alle Gebäude verschlucken, kein heller Schein dem Feind hoch oben in der Luft offenbaren, wo er mit seinen Bomben trifft. Doch vom Hause der Familie Reiser, am Untermarkt 12, fällt an diesem Tag aus einem der Fenster Licht auf die Seitenstraße. Eine Reiszwecke hat sich gelöst, der schwarze Karton hängt herunter - noch bevor jemand der Reisers den Fehler bemerkt, kracht bereits das Fensterglas. Mehrere Steine liegen im Raum, unten auf der Straße brüllt der Bürgermeister, eingesetzt von der NSDAP: "Reiser! Pass bloß auf, Dachau ist nicht weit und hat noch viel Platz." Nicht das einzige Mal, dass der Bürgermeister dem parteilosen Bäcker Hans Reiser in den Jahren des Hitler-Regimes mit dem Konzentrationslager droht.

Hätte sein Sohn, der den gleichen Namen wie der Vater trägt, diese Geschichte nicht aufgeschrieben, würde sich wohl in einigen Jahrzehnten, vielleicht schon eher, niemand mehr an sie erinnern. Wenn Menschen sterben, sterben mit ihnen die Erinnerungen, die sie bis dahin allein in ihrem Gedächtnis trugen. Hans Reiser aber wehrt sich gegen das Verblassen der eigenen Familiengeschichte - und hat sie deshalb in einem Buch aufgeschrieben. Dass Menschen, gerade in hohem Alter, das Bedürfnis haben, die Erinnerungen an das Vergangene und die Vorfahren zu bewahren, ist nicht ungewöhnlich. Der 77-Jährige aber hat auf eigene Kosten 250 Exemplare drucken lassen, die nicht nur Verwandte und Bekannte erhalten, sondern auch Fremde. Sein Buch "Glück und Unglück san nah beinand", dessen Untertitel "150 Jahre Höhen und Tiefen einer bayerischen Familie" an Thomas Manns Buddenbrooks erinnert, verteilt er in der Stadt an "junge Leute", wie er selbst sagt.

In seinem Auto hat er immer einen Karton voller Bücher dabei - wenn er auf jemanden trifft, der sich seinem Eindruck nach für Literatur und Geschichte zu interessieren scheint, schenkt er ihm einen solchen Band. Als Indiz reicht Reiser bereits, dass jemand lesend auf einer Bank sitzt - dann fragt er höflich nach, ob man nicht Interesse an 112 Seiten Familiengeschichte hätte. Wieso er das Buch auch an Fremde verteile, denen all die Personen auf den Schwarz-Weiß-Fotografien unbekannt seien? "Ich will wissen, was Leute dazu zu sagen, die weder die Zeit von damals miterlebt haben, noch die Menschen persönlich kennen", sagt Reiser und blickt auf das Foto seines Hochzeitstages, neben ihm seine Ehefrau Marianne mit Schleier und Blumen, die jetzt gerade in der Küche Kartoffelsuppe kocht. Der 77-Jährige sitzt in der Essecke des gemeinsamen Hauses in Wolfratshausen, um ihn herum ein Dutzend gerahmter Bilder von Verwandten, von Malereien aus der Region. Reiser umgibt sich gern mit Erinnerung.

Nach Dubai, Paris und Japan hat er das Buch bereits verschickt, bisher hat er für sein Schreiben nur Lob bekommen, von den Bekannten. "Kritik nämlich geben eher Fremde", sagt Reiser. Auch deshalb verteilt er es nun über den Freundeskreis hinaus.

Sein Buch führt zurück bis ins 19. und 20. Jahrhundert, enthält Briefe des Vaters aus der Münchner Kaserne, kurz vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs: "So gefährlich ist die Sache überhaupt nicht, im Gegenteil, schön ist es, fürs Vaterland ins Feld zu ziehen", schreibt der Vater dort am zweiten August des Jahres 1914. Später aber wird der Bäcker von toten Pferden auf den Schlachtfeldern schreiben, von dem Gestank brennender Dörfer und verwesender Tiere. Der Ton seiner Briefe ändert sich, "hoffentlich dauert es nicht mehr lange", steht jetzt in den Nachrichten an Zuhause oder "es geht kein Ende her, es ist schrecklich."

Solche Zeilen sollen den jungen Generationen auch Mahnung sein, sagt Reiser und tippt auf ein Fotos eines alten Opel Kadett: "Dieses Auto hier musste mein Vater später an zwei NSDAP-Männer in schweren Mänteln abgeben, die es kurz vor Kriegsende mit nach Russland nahmen." Die versprochene Entschädigung habe der Vater, der so lange auf das Auto gespart hatte, nie erhalten. Solche Erlebnisse, von denen ihm teils auch die Schwestern berichteten, weil er selbst noch zu klein war, hat Reiser verinnerlicht. Sie haben seine politische Ausrichtung geprägt. Er weiß um die Gefahren diktatorischer Herrschaft, staatlicher Willkür, um die Sinnlosigkeit des Krieges, die seinen Vater sein Leben lang zeichnete.

Reiser selbst saß vor einigen Jahren im Wolfratshauser Stadtrat, für die Freien Wähler, denn Parteien - das lehrte ihn der Vater damals - schränkten nur die persönliche Freiheit ein. Wenn Hans Reiser heute sieht, wie Menschen wieder rechte Parolen auf den Straße rufen, gegen Flüchtlinge hetzen, macht ihm das Angst. "Sehr Angst", sagt er, auch wenn es ihn und seine Frau vielleicht nicht mehr betreffe, er habe schließlich drei Kinder und fünf Enkel.

Eine Warnung an die Gesellschaft, das ist der eine Grund für sein Buch. Der andere, dass Reiser zeigen will, dass jede Familie Schicksalsschläge zu bewältigen habe - und dass es immer weiter gehe. Blättert man durch die Seiten sieht man Fotos von Reisen nach Tunesien, Los Angeles, Dubai und Iruma. Fotos von Skisport, Badeurlauben und Kajaktouren. Aber dazwischen sieht man auch: von Krankheit gezeichnete Gesichter, alte Zeitungsartikel, die von schweren Unfällen berichten, schwarz umrahmte Todesanzeigen. Die Frage, ob das Schreiben solch eines Buches einen nicht emotional mitnehme, weil man sich intensiv mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen muss, mit eigenen Verfehlungen und Leidensmomenten, verneint Reiser. "Ich erinnere mich gerne an diese Ereignisse, weil sie in den meisten Fällen immer gut ausgegangen sind", sagt der 77-Jährige. Vielleicht wäre solch ein Projekt wie das von Reiser sonst auch nicht möglich. Um Fremden seine Familienhistorie zu erzählen, muss man sie wohl erst selbst akzeptiert haben.

Neben allem Idealismus führt Reiser aber auch noch dritten Grund für das Schreiben des Buches an: "Das Fernsehprogramm ist abends oft so schlecht, da muss man sich eine Beschäftigung suchen", sagt Reiser. Er sei jemand, der ständig Projekte brauche. Apropos, er blickt hinüber zur Wanduhr, nicht mehr viel Zeit, gleich muss er los ins Sportgeschäft. Das gründete Reiser in den 70er Jahren, begann mit dem Verkauf von Kajaks in einer Garage. Heute heißt es "Intersport Reiser", sein Sohn Thomas ist der Geschäftsführer - er schreibt die Geschichte fort.

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