Wolfratshausen:WG mit Syrern

Wolfratshausen: Stefan (2.v.l.) und Andrea Sandmair haben Khaled Al Hussein (links) und Obadah Ayash bei sich aufgenommen. Gefunden haben sich das Wolfratshauser Ehepaar und die Flüchtlinge über eine Internetplattform.

Stefan (2.v.l.) und Andrea Sandmair haben Khaled Al Hussein (links) und Obadah Ayash bei sich aufgenommen. Gefunden haben sich das Wolfratshauser Ehepaar und die Flüchtlinge über eine Internetplattform.

(Foto: Hartmut Pöstges)

Anerkannte Flüchtlinge finden nur schwer eine Wohnung - und belegen in den Gemeinschaftsunterkünften Plätze, die dringend gebraucht werden. Khaled und Obadah leben jetzt mit einer deutschen Familie zusammen.

Von Pia Ratzesberger

Für Obadah ist es ein Zeichen des Respekts: Er berührt fremde Frauen nicht, gibt ihnen auch nicht die Hand. Nicht einmal seiner Mitbewohnerin. Das habe religiöse Gründe, sagt er selbst. Im Wohnzimmer in Wolfratshausen spricht er mit Andrea Sandmair genau so wie mit ihrem Mann oder seinem Freund Khaled, nur körperliche Nähe ist tabu, selbst ein Tippen auf die Schulter. Manche halten das für respektlos, für Andrea Sandmair ist es in Ordnung. Sie alle lernen voneinander, sagt die Psychiaterin. Sie nickt den beiden Jungs zu, als wolle sie sagen: Geht schon klar.

Seit etwa einem halben Jahr teilt sie ihr Haus nahe der Loisach nicht mehr nur mit ihrem Mann, sondern auch mit den beiden 20-jährigen Syrern. Gefunden haben sie sich über die Internetplattform "Flüchtlinge Willkommen" - eine Non-Profit-Organisation, die Geflohene deutschlandweit zur Miete in private Unterkünfte vermittelt.

Zwar dürfen sich anerkannte Flüchtlinge wie Khaled und Obadah selbst eine Unterkunft auf dem freien Markt suchen. Doch weil die Konkurrenz um kleine Wohnungen groß ist, fällt die Wahl der Vermieter selten auf junge Geflohene ohne feste Anstellung. Im Kreis wohnen momentan 105 anerkannte Flüchtlinge noch immer in Gemeinschaftsunterkünften, obwohl sie dort eigentlich ausziehen dürften und müssten. Denn sie belegen Plätze, die dringend für Neuankömmlinge gebraucht werden.

Sogar ein wenig bayerischer Dialekt

Über die Plattform haben deutschlandweit 225 Flüchtlinge ein Zimmer gefunden; wenn man das in Relation setzt zu der einen Million Flüchtlingen im Land, ist das natürlich wenig. Aber im Einzelfall ein ziemlich großer Fortschritt.

Khaled und Obadah lernen von den Sandmairs die deutsche Sprache, ein wenig bayerischen Dialekt, was die Tagesschau ist und wer Andrea Nahles. Die Sandmairs dagegen wissen jetzt, dass man in Daraa, der syrischen Heimatstadt von Khaled und Obadah, keine Straßennamen zu kennen braucht. Weil man sich trotz Hunderttausenden Einwohnern alleine über den Familiennamen orientiert. Dass es auch im Krieg Internet gibt. Aber nicht immer, weil oft der Strom ausfällt.

Der Frieden lässt schon viel zu lange auf sich warten

Khaled hält sein Handy in der Hand, tippt angestrengt auf dem Bildschirm herum. Oft erreiche er seine Eltern zu Hause in Syrien nicht, erzählt er, wegen der Stromprobleme. Seine Mutter und sein Vater haben nicht vor zu fliehen, wie er. "Sie sind alt, sie können nicht noch einmal eine neue Sprache lernen, eine neue Arbeit finden", sagt der 20-Jährige ruhig. "Mein Vater will nicht alles verlassen, ich wollte das eigentlich auch nicht, aber was soll ich machen." "Du wolltest ein gutes Leben, oder?", fragt Andrea Sandmair. Khaled nickt.

Ihm geht alles zu langsam. Beim Schlittschuhfahren im Geretsrieder Stadion wäre er nach nur einer Stunde am liebsten übers Eis geglitten wie all die anderen um ihn herum. Nach nur drei Monaten Sprachkurs will er Deutsch so selbstverständlich über die Lippen bringen wie alle anderen in diesem Land. Und der Frieden in Syrien, der lässt ohnehin schon viel zu lange auf sich warten. Ungefähr in dieser Reihenfolge zählt Khaled auf, was er ersehnt, während er auf dem Sofa im Wohnzimmer sitzt, in T-Shirt und Jogginghose.

Er geht in die Küche, um Tee aufzusetzen, mit nackten Füßen läuft er über den Holzboden. Kommt nach einigen Minuten mit fünf Tassen zurück. Er lässt sich auf das Sofa fallen, boxt Stefan Sandmair kumpelhaft in die Seite. Der lacht und sagt dann: Natürlich sei nicht immer alles einfach, natürlich gebe es Missverständnisse, das wolle er nicht leugnen. Profanes wie, wer wann das Bad nutze oder Grundlegendes, warum das Biofleisch nicht halal geschlachtet ist - also nach den Regeln des Koran geschächtet.

"Andrea, du bist doch immer eingeladen"

In Syrien haben Khaled und Obadah an der Technischen Universität studiert, Maschinenbau und Elektrotechnik. Jetzt gehen sie tagsüber in einen Sprachkurs, während Andrea in der Klinik arbeitet und ihr Mann als Techniklehrer an der Mittelschule unterrichtet. Gerne hätten die beiden Syrer einen Job, doch das ist ähnlich wie mit der Wohnung: schwierig.

Als Psychiaterin ist Andrea Sandmair im Schichtdienst tätig - oft, wenn sie aus der Arbeit komme, hätten Khaled und Obadah schon gekocht, sagt die 54-Jährige. Sie trägt eine feine Brille auf der Nase, die langen Haare fallen auf die Schultern. Sie sei noch nie so oft zum Essen eingeladen worden wie in den vergangenen Wochen, sagt sie. Als Khaled das hört, schreckt er auf, hebt die Hand und sagt: "Andrea, du bist doch immer eingeladen". Er klingt scherzend, aber auch ein wenig ehrlich entrüstet.

Dort - die Flüchtlinge, hier - die Deutschen

Während der frühere bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber an diesem Abend nur ein paar Meter entfernt in der Loisachhalle spricht und dabei fordert, die Landesgrenzen stärker zu kontrollieren, sind im Wohnzimmer der Sandmairs schon viele Grenzen überwunden. Dort - die Flüchtlinge, hier - die Deutschen. Solche Argumentationen kennt man in dem Haus nahe der Loisach nicht. Abends sitzen die vier oft zusammen, gehen am Wochenende in die Berge oder schwimmen. Die beiden älteren Deutschen und die beiden jungen Syrer bilden eine ungewöhnliche Wohngemeinschaft - gerade in einer Kleinstadt wie Wolfratshausen, in der kaum jemand das Konzept WG lebt.

Freunde und Bekannte der Sandmairs reagieren stets mit Respekt und Lob, wenn sie von ihrem Alltag zu viert erzählen. Die Zuhörer schieben dann aber meist nach: "Wir könnten das ja nicht." Genau solche Vorbehalte wollen Sandmairs widerlegen, sehr wohl könne jeder seinen Wohnraum teilen, betonen sie immer wieder an diesem Abend, wenn nur der Wille da sei. Wahrscheinlich aber macht genau das den Unterschied. Die Sandmairs wollen eben.

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