Wolfratshausen:Die Hebammen der Flüchtlinge

Wolfratshausen: Wenn die gemeinsame Sprache fehlt, behelfen sie sich mit Bildkarten: Die Hebammen Claudia Arnold-Bertocco (l.) und Nicole Lipowsky.

Wenn die gemeinsame Sprache fehlt, behelfen sie sich mit Bildkarten: Die Hebammen Claudia Arnold-Bertocco (l.) und Nicole Lipowsky.

(Foto: Hartmut Pöstges)

Schon 20 Babys haben Asylbewerberinnen in der Kreisklinik geboren - manche singend, andere in der Hocke. Wie Claudia Arnold-Bertocco und Nicole Lipowsky Sprachbarrieren und Kulturunterschiede überwinden.

Von Claudia Koestler, Wolfratshausen

Das Gefühl, dass nicht mit, sondern über einen gesprochen wird, ist meist schon Stress genug. Doch zahlreiche Frauen im Landkreis, die gerade ein Kind zur Welt bringen, erleben, dass ausgerechnet in dieser intimsten aller Ausnahmesituationen eine Kommunikation nicht möglich ist: Weil sie als Flüchtlinge die deutsche Sprache noch nicht beherrschen.

Deshalb hat sich in den vergangenen Monaten auch das Anforderungsprofil an Hebammen stark verändert. Weil sie immer öfter für die Betreuung von schwangeren Asylbewerberinnen angefragt werden, stehen sie derzeit vor enormen Herausforderungen: Sie müssen oft nonverbal Hilfe leisten und Mut zusprechen, in Asylunterkünften beraten und zudem ein Gespür für den kulturell anders geprägten Umgang mit Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett entwickeln. "Der Stressfaktor ist sicher mehr geworden, weil bei schwangeren Flüchtlingen die Sprachbarriere und die kulturellen Unterschiede dazu kommen", erklären Claudia Arnold-Bertocco und Nicole Lipowsky. Denn: "Auch wenn die Sprache nicht da ist, wir Hebammen müssen das Vertrauen aufbauen".

In Icking gab es gleichzeitig zwölf Schwangere in einer Turnhalle

Die beiden sind zwei von insgesamt sechs selbständigen Hebammen, die in der Kreisklinik Wolfratshausen tätig sind. Und zwei Hebammen, die immer öfter auch Hilfe leisten bei Asylbewerberinnen, die hierzulande ein Kind auf die Welt bringen - in einem Gesundheitssystem, dessen Regelungen sie nicht kennen, mit Ärzten und Hebammen, deren Sprache sie nicht verstehen. In Icking etwa waren zeitweise bis zu zwölf Schwangere untergebracht, um die sich ehrenamtliche Helfer und Lipowsky als Hebamme kümmerten. Arnold-Bertocco betreut schwangere Flüchtlinge in Münsing. An die 20 Geburten von Flüchtlingen habe die Kreisklinik Wolfratshausen in den vergangenen Monaten verzeichnet.

Generell seien schwangere Asylbewerberinnen "immer ein Überraschungspaket", sagen die beiden Hebammen. Denn sehen sie die Frauen das erste Mal, ist meist wenig bis gar nichts bekannt über den Verlauf der Schwangerschaft oder über mögliche Risikofaktoren. Oft wisse man auch nicht genau, wann das Kind kommt - "wir haben dann nur den Tastbefund und unsere Erfahrungen", sagen sie.

Der Deutsche Hebammenverband hat auf die Situation reagiert und einen Leitfaden herausgegeben für die Betreuung von Flüchtlingsfrauen. Als oberste Prämisse steht darin: "Vertrauen Sie auf Ihr Hebammenwissen, das nicht kulturell gebunden ist, und nehmen Sie gleichzeitig eine sensible, offene Haltung gegenüber den Frauen ein." Manchmal könne man sich mit Händen und Füßen verständigen, erzählen Lipowsky und Arnold-Bertocco, insbesondere auch mit Blickkontakten bauen sie Nähe und Vertrauen auf. Doch bei medizinischen und anatomischen Fachbegriffen stoßen auch die Hebammen an ihre Grenzen.

Inzwischen gibt es jedoch spezielle Bild-Text-Karten, auf denen zentrale Sätze in zehn Sprachen abgedruckt sind, begleitet von entsprechenden Zeichnungen. Immer wieder helfe auch eine Übersetzer-App im Smartphone, um Flüchtlingen mit ein paar Brocken verständlich zu machen, worum es geht. Eine andere Variante wären Dolmetscher, aber das gestalte sich im Alltag schwierig, sagen die Hebammen. "Weil nicht nur die Privat- und Intimsphäre gewahrt, sondern eben auch die Schweigepflicht gegenüber Dritten eingehalten werden muss." Genauso schwierig sei es, geschützte Räume für die Beratungen und Untersuchungen in den größeren Unterkünften zu finden, weg von den Blicken der fremden Mitbewohner.

Im Kreißsaal können traumatische Gefühle wieder hochkommen

Trotz des Mehraufwandes: Beide betonen, dass sie gerne mit Asylbewerberinnen arbeiten - "denn wir können von ihnen viel lernen", sagen Arnold-Bertocco und Lipowsky. Zum Beispiel das manchmal noch stärkere Gespür, was in der jeweiligen Situation das Richtige ist. Afrikanerinnen ziehen während der Geburt etwa eine andere Position vor, gebären lieber in der Hocke und singen auch mal gegen den Schmerz an. "Da lassen wir sie", sagen die Hebammen. Und natürlich müssen sie sich auch auf andere Riten und Traditionen einstellen: Viele zielen darauf ab, sich als junge Mutter in der Zeit des Wochenbettes nicht öffentlich zu zeigen, oder das Neugeborene besonders zu schützen, etwa mit einem Koran in der Wiege.

Um den Frauen kompetent zur Seite stehen zu können, müssten Hebammen sowohl traumasensibel wie auch kultursensibel sein, erklären die beiden. Gegenüber männlichen Familienmitgliedern, so rät der Hebammenverband, sollten sie allerdings klar und parteiisch für die Belange der Frau und Kinder auftreten. So sei es in vielen Kulturen nicht üblich, über Familienangelegenheiten mit einer fremden Person zu reden, und manche Männer seien zudem erstaunt über die selbständige Position einer Hebamme. Ihr Auftreten und ihre Kompetenz führe allerdings den Stellenwert der Frau hierzulande vor Augen und sei für so manchen Flüchtling oft "ein Punkt, an dem Integration beginnt", sagen die beiden.

19-Jährige bringt an Heiligabend ihr Kind zur Welt

Bei Flüchtlingen aus muslimischen Ländern komme auch immer wieder das Thema der Beschneidung bei Jungen auf. "Aber in der Wolfratshauser Klinik haben wir keinen Arzt, der das macht", sagt Arnold-Bertocco. Dass eine Schwangere selbst beschnitten war und deshalb ein chirurgischer Eingriff nötig wurde, "ist bislang noch nicht vorgekommen - Gott sei dank", betonen die Hebammen.

Man dürfe sich allerdings nicht der Illusion hingeben, dass bei schwangeren Flüchtlingen nicht auch Gewaltopfer darunter seien. Je nach Fluchtweg und Fluchtgrund müsse man davon ausgehen, dass viele Frauen Gewalt, auch sexualisierte Gewalt in ihren Heimatländern oder auf der Flucht erlebt haben. Es komme vor, dass eine Frau ihnen ihre leidvollen Erfahrungen anvertraue. Manchmal erkennen sie es "an einem typischen Verhalten, wenn eine Frau vergewaltigt wurde", wie sie erklären.

Doch aus Angst, auch vor dem Unbekannten, nähmen sich viele schwangere Frauen, die es bis hierher geschafft hätten, oft sehr zurück, negierten traumatische Folgen der Gewalt und der vielfältigen Verluste. Weil Frauen wie diese mit Abhängigkeit und Hilflosigkeit konfrontiert waren und diese Gefühle im Kreißsaal wieder aufkommen können, sei es wichtig für die Hebammen, das Selbstwertgefühl zu stärken für ein positives Geburtserlebnis.

Manchmal nehmen auch die Hebammen Stärke, Zuversicht und Freude mit aus dem Kreißsaal: "An den Weihnachtsfeiertagen hatte ich 24-Stunden-Dienst und prompt kam eine 19-jährige Asylbewerberin auf die Geburtsstation, die genau an Heiligabend ihr Kind zur Welt brachte. Das hat mich tief berührt", sagt Lipowsky.

Für solche Momente und generell für die Arbeit mit schwangeren Asylbewerberinnen komme es allen zugute, dass die Wolfratshauser Klinik und die Geburtsabteilung klein seien: "Wir haben hier noch mehr Zeit, Ruhe und Intimität." Noch seien die Hebammen der Region zudem gut aufgestellt, die Mehrbelastung zu schaffen und die Vernetzung untereinander sei so eng, dass man sich helfe, wie Lipowsky und Arnold-Bertocco betonen. "Wir müssen eben jeden Tag gemeinsam Schritt für Schritt gehen".

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