Wolfratshausen:Diagnose: sehr amüsant

Mit einer großen Revue in der Loisachhalle präsentiert der Historische Verein Wolfratshausen sein neues Buch über Medizingeschichte im Isar- und Loisachtal. Auch Ärzte stehen auf der Bühne

Von Matthias Köpf, Wolfratshausen

100 studierte Mediziner soll es um das Jahr 1800 herum in ganz Ober- und Niederbayern gegeben haben, davon nur 19 auf dem Land, zu dem das marktstolze Wolfratshausen jedenfalls damals zu zählen war. 214 Jahre später hat der Historische Verein am Freitagabend schon fast so viele Ärzte als Künstler auf der Bühne der Loisachhalle versammelt, um mit einer medizingeschichtlichen Revue sein neues Buch zu feiern. Die Ärzte im Publikum mitgerechnet hätte es um 1800 wohl für ganz Oberbayern gereicht, und so zeigte sich an dem Abend unter anderem eines: Die Ärzteschaft ist immer noch ein herausragender Träger bürgerlicher Kultur, was auch für den Historischen Verein gilt.

Dessen inzwischen achtes, diesmal 250 Seiten starkes Buch heißt "Ärzte Hexen, Handaufleger. Medizingeschichte im Isar- und Loisachtal". Es war wenige Stunden vor der Revue aus der Druckerei gekommen und danach schon in mehreren hundert Exemplaren für je 25 Euro verkauft. Schon der Titel des Buchs und der Revue zeigt, dass die Ärzte früher echte Autoritäten gewesen sein mochten, aber keineswegs konkurrenzlos waren. Mit welchen Titeln sich heutige Handaufleger schmücken, ist nicht Thema des Historischen Vereins. So spezielle Heilpraktikerinnen wie die "Kohlheißn-Traudl" von Walchstadt aber schon. Die praktizierte bis 1924 im Gasthof "Zum Deutschen Reich", der heutigen "Walchstädter Höh", als Wunderheilerin und Wahrsagerin. Sie hielt sich nie groß mit der Anamnese auf, sondern begnügte sich in Abwesenheit des Patienten notfalls mit einer Bierflasche voll Urin. Christine Noisser und Claus Steigenberger vergegenwärtigten die Traudl und ihren jammernden Patienten auf der Bühne.

Der Bezirksarzt Matthias Heilmair äußerte sich in seinem pflichtschuldigen Physikatsbericht an die königliche Regierung eifersüchtig über solche Konkurrenz: Zu den Pfuschern schickten die Patienten "oft zehn bis 15 Stunden weit" und ließen sich "enormes Geld abnehmen", wie auf der Bühne Wiggerl Gollwitzer dem emeritierten Ordinarius Peter Scriba als Gerichtsschreiber in die Feder diktierte. Aber wehe, sie sollten den Arzt zahlen, klagte Heilmair 1862 über die Bewohner seines Sprengels, denen er eine robuste Gestalt und Konstitution, große Rauflust und eine natürliche Trägheit attestierte, weshalb die Geistesentwicklung "langsamen Schrittes" gehe.

Auf der Bühne ging es gut zweieinhalb Stunden lang schneller: Unter anderem trug der 92-jährige Arzt Max Platiel aus seinen Aufzeichnungen über den Alltag seines Vaters vor, des Landarztes Josef Platiel, der sich erst mit der Kutsche, dann per Moped und endlich mit dem Auto auf den Weg zu seinen Patienten machte. Die 84-jährige Hebamme Anna Huber erläuterte ihren Koffer mit den Utensilien, mit dem sie 1953 ihren Dienst in Königsdorf und Wolfratshausen antrat. Von den mehr als 7000 Kindern, denen sie auf die Welt geholfen hat, saßen einige im Publikum und nickten einander zu. Der Applaus für diese Protagonisten, für das eigens zusammengestellte und erstaunlich gut eingespielte und beschwingte Salonorchester aus elf Ärzten plus Solosängerin Birgit Schmidbauer, für die drei schlagersingenden falschen Schwestern Eva Greif, Gabi Rau und Elisabeth Merritt, für die Waldramer Sängerinnen und den Wolfratshauser Kinderchor, für die Moderatoren Sybille Krafft und Bernhard Reisner vom Historischen Verein und ganz allgemein für die 60 Mitwirkenden auf und für die 20 hinter der Bühne war lang, herzlich und verdient.

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