Suchtkrankheit:"Ich habe erst spät zu leben gelernt"

Lesezeit: 5 min

Fritz Schmitt war lange Zeit seines Lebens alkoholabhängig. Der Alkohol sei unglaublich tückisch, erzählt er. Es sei ein Wunder, dass er den Entzug so schnell geschafft habe. (Foto: Hartmut Pöstges)

Fritz Schmitt ist trockener Alkoholiker. Er begann mit zwölf Jahren zu trinken. Die Sucht hat ihm viel genommen.

Von Leonard Scharfenberg, Geretsried

Als er vom Stuhl kippt, hat Fritz Schmitt (Name von der Redaktion geändert) bereits zwei Maß Bier und mehrere Gläser Schnaps getrunken. Ein anderer Gast des Wirtshauses gibt ihm eine Herzdruckmassage, bis der Notarzt kommt. Am nächsten Morgen wacht er im Krankenhaus auf: Sein Magen musste ausgepumpt werden. Das Jugendamt wird eingeschaltet. Es gibt Ärger: Fritz ist damals erst zwölf Jahre alt.

Wenn er heute darüber redet, schüttelt er nur den Kopf. "Ich habe meine ganze Jugend versoffen", erzählt er. Mittlerweile ist Fritz Schmitt 64 Jahre alt. Bald werde sein neunter Enkel zur Welt kommen, erzählt er. Man merkt dem freundlichen Mann, der hier in seinem bücherreichen Wohnzimmer sitzt, seine Geschichte nicht an. Er sieht nicht so aus, wie man sich einen Alkoholiker vorstellt. Seit 38 Jahren ist Schmitt trocken. Trotzdem: Die Sucht habe ihm sehr viel verbaut, sagt er heute.

Als Schmitt mit 14 Jahren - zwei Jahre nach seinem ersten Rausch - in einem Münchner Verlag seine Lehre zum Schriftsetzer beginnt, tritt der Alkohol erneut in sein Leben. Mehrere seiner Kollegen sind abhängig. Oft wird sogar während der Arbeit Alkohol konsumiert. Es dauert nicht lange, bis auch Schmitt anfängt zu trinken.

Im Nachhinein erkennt er: "Mit 16 war ich schon ernsthaft abhängig." Er freundet sich mit einem anderen Lehrling an. Die beiden gehen nach der Arbeit oft in eine "Boazn", spielen dort am Automaten und trinken. Später wechselt der Ort: Die Freunde besuchen jetzt Diskotheken. Was bleibt, ist der regelmäßige Vollrausch. Mit 18 Jahren fängt Schmitt an, sich von seinem Freund und dessen Alkoholkonsum zu distanzieren. "Es wurde wieder ein bisschen ruhiger", erzählt er.

Wenig später lernt er ein Mädchen kennen. Die beiden verlieben sich. Sie wird unerwartet schwanger. Als Schmitt 20 Jahre alt ist, heiraten sie. Bald darauf wird in ihrer Familie ein Grundstück vererbt. Die Entscheidung fällt schnell: Schmitt und seine Frau wollen ein Haus bauen. "Das ist mir alles über den Kopf gewachsen", erinnert er sich. Immer öfter greift er nun wieder zum Alkohol. Jeden Tag drei Bier - damals habe er noch nicht verstanden, was er seiner Familie damit antut. "Das Schlimme an so einer Sucht ist das Gefühl, es seien immer die anderen Schuld", erklärt er.

"Das war kein Leben mehr", erzählt er.

Seine Frau würde ihm keinen Spaß gönnen, denkt Schmitt damals, wenn sie ihn bittet, nicht zu trinken. Auch als ihn sein Onkel, selbst trockener Alkoholiker, auf seinen Konsum anspricht, will er nichts davon hören. Man merke nicht, dass man so abhängig ist, sagt er heute. Wenn einmal die "unsichtbare Grenze" zur Sucht durchbrochen ist, fange man an, seinen Konsum unbedingt verteidigen zu wollen.

Schmitt geht es schlecht. Oft bekommt er Schweißausbrüche oder zittert den ganzen Tag. "Das war kein Leben mehr", erzählt er. Auch innerlich habe es "ganzschön rumort". Mehrmals ist er in dieser Zeit kurz davor, Selbstmord zu begehen.

"Die Sucht ist wie eine Bahn die abwärts fährt. Wenn man die Bremsen nicht findet, wird sie immer schneller und endet am absoluten Tiefpunkt", erzählt Schmitt. Für Einige sei dieser Tiefpunkt die Obdachlosigkeit, für Andere die zerbrochene Ehe oder der Entzug des Sorgerechts für die Kinder. Manch einer fände auch seinen endgültigen Tiefpunkt: den Tod.

Sie sind schon einige Jahre verheiratet, als er seiner Frau verspricht, das Weihnachtsfest nüchtern mit der Familie zu verbringen. Am Vormittag, auf dem Weg zum Christbaumkauf, besucht er seinen Bruder, um ein Geschenk zu überreichen. Dessen neue Frau bietet ihm etwas zu trinken an. Er nimmt - aus Höflichkeit und Gewohnheit - ein Bier; dann noch eines. Schließlich landet er vor einem Kiosk, fährt danach sturzbetrunken und ohne Weihnachtsbaum nach Hause. Schmitt verschläft das Familienfest. Am nächsten Tag kündigt ihm seine Frau an, sich von ihm scheiden zu lassen. Sie und seine drei Kinder zu verlieren? "Das war die Stunde Null", erzählt er.

Er hat Angst, die Situation könne sich zu einem Verhör entwickeln. Doch als Schmitt ein Treffen der damals frisch gegründeten Geretsrieder Gruppe besucht, schlägt ihm Freundlichkeit entgegen. "Schön, dass du da bist" - schon lange hat er diesen Satz nicht mehr gehört.

Als er mit anderen Betroffenen spricht, wird ihm das erste Mal klar, dass er Alkoholiker ist. Oft wurde ihm zwar gesagt, er trinke zu viel. Doch die Bezeichnung "Alkoholiker" ist neu und öffnet ihm die Augen. Bei der Sitzung sagen sie ihm, er müsse sofort aufhören zu trinken. Nie wieder Alkohol. Kein Sektempfang. Keine Schnapspralinen. Vor allem aber: Kein Feierabendbier.

Für viele Menschen in Deutschland gehört Alkoholkonsum zum Leben. Nach einer Studie der Bundesdrogenbeauftragten betreiben etwa 9,5 Millionen Menschen in Deutschland einen "gesundheitlich riskanten Alkoholkonsum". Etwa 1,3 Millionen seien abhängig. Der Grund: Alkohol sei hierzulande verhältnismäßig billig, legal und gesellschaftlich akzeptiert, obwohl jährlich etwa 20 000 Deutsche an den Langzeitfolgen des Konsums sterben.

Auch der Mann, der zu Zeiten seiner Lehre Schmitts Freund und Trinkkumpane war, stirbt an den Auswirkungen seiner Sucht. Mit nur 29 Jahren erliegt er einem Leberdefekt. Schmitts Bruder, ebenfalls Alkoholiker, fährt im Rausch gegen einen Baum. Auch er stirbt.

Schmitt lebt. Und es geht ihm immer besser. Er hangelt sich von Treffen zu Treffen. "Was für mich früher der Gang in die Wirtschaft war, wurden jetzt die Anonymen Alkoholiker", erzählt er. Ein Jahr später trinkt er das allerletzte Mal. Schmitt hat es geschafft. Dass ein Alkoholiker ganz ohne stationäre oder ambulante Therapie trocken wird, ist eine Seltenheit. "Für mich war es ein Wunder", sagt er.

Seit 40 Jahren besucht er deshalb fast jede Woche die Treffen der Anonymen Alkoholiker. Selbst im Urlaub sucht er örtliche Gruppen auf. Die Organisation gibt es auf der ganzen Welt. Es schöpft Kraft daraus anderen zu helfen und ihnen zu zeigen, dass es möglich ist, sich vom Alkohol zu befreien. "Immer wieder kommen Menschen psychisch oder körperlich nur noch auf dem Zahnfleisch daher", erzählt er. Diese Menschen zu unterstützen, sei seine Lebensversicherung geworden.

Viele Abhängige, die er in den Gruppen trifft, haben noch heftigere Suchtprobleme als er damals. "Der Alkohol ist unglaublich tückisch", sagt Schmitt. Besonders wenn es um Rückfälle geht. Selbst nach zehn Jahren kann ein trockener Alkoholiker durch kleine Mengen wieder in die Abhängigkeit rutschen. Der Genuss eines Stücks Whiskeytorte oder einer mit Wein zubereiteten Bratensoße reicht schon aus. Er kenne viele Menschen, denen es so ergangen ist, berichtet Schmitt.

Zwei Scheidungen hat er hinter sich, eine Krebserkrankung überstanden und im vergangenen Herbst dann auch noch einen Schlaganfall. Schmitt hatte auch nach seiner Abhängigkeit kein einfaches Leben. Zum Alkohol griff er trotzdem nie wieder. Er genießt sein suchtfreies Dasein. "Ich habe erst spät zu leben gelernt", sagt er heute. In den ersten Jahren als trockener Alkoholiker habe er zunächst "jeden bekehren und alles verbieten" wollen. Mit der Zeit erkennt Schmitt aber, dass der Alkohol nicht das eigentliche Problem ist. "Es sind die Menschen, die nicht damit umgehen können", weiß er. Schmitt war selbst so ein Mensch. Er sei Problemen ausgewichen und habe sich in den Alkohol gestürzt, sagt er. Die Sucht hat sein Leben fast zerstört.

© SZ vom 05.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: