Schäftlarn:Von Räumen und Türhütern

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Wie bedingen sich Begrenztes und Unbegrenztes? An diesem Gedanken hat sich Leonard Lorenz drei Jahre lang abgearbeitet. Nun zeigt er in Neufahrn seine meterhohen Antworten.

Von Stephanie Schwaderer, Schäftlarn

Einen Namen hat er ihr nicht gegeben. Obwohl sie ihn immer wieder aufs Neue erstaunt, inspiriert, beflügelt. Wie eine Blume reckt sich die Skulptur nach oben, kraftvoll und fragil zugleich, gebrochen und doch vollendet. Vor allem aber, und darauf kommt es Leonard Lorenz bei seinen neuen Arbeiten besonders an, lässt sie durch das Spiel mit Form und Leere einen Raum entstehen. Dieser Gedanke, das Paradoxon, dass es Raum nur durch Begrenzung geben kann, bannt ihn seit Jahren und findet sich auch im Titel seiner aktuellen Ausstellung im Artforum Lorenz wieder: "Kunst als Sprache zwischen Begrenztem und Unbegrenztem, Sehnsucht und Ratio".

Einfach macht es Lorenz sich nicht. Weder in der Kunst noch im sozialen Austausch. Um ihm zu folgen, braucht man keinen Facebook-Account. Eher die Bereitschaft, einen Gedanken bei Sokrates ("Ich weiß, dass ich nichts weiß") beginnen zu lassen, dann einen kleinen Schlenker über den streitbaren Luther zu machen, um schließlich bei Kafkas Türhüterlegende zu landen. "Wir sind immer unser eigener Türhüter", sagt Lorenz. Das Sicherheitsbedürfnis stecke dem Menschen seit Millionen Jahren in den Knochen. Die Polarisierung der Gesellschaft rühre daher, dass man den Feind gern im Außen, im Fremden suche, anstatt nach innen zu blicken.

"Ein Fluss braucht ein Ufer, um darin fließen zu können": Leonard Lorenz zeigt in seinem Artforum in Neufahrn große Holzskulpturen und Gemälde. (Foto: privat)

Die auffallendsten Merkmale des 68-Jährigen sind seine Augen - eisblau - und seine Hände: kräftige, fast quadratische Hände, die den Umgang mit gewaltigen Holzblöcken und schwerem Gerät gewohnt sind. Schauen und Tun gehören für Lorenz untrennbar zusammen: "Die vita contemplativa ist die Voraussetzung für die vita activa", sagt er. "Innen und außen bedingen sich. Meine Kunst spiegelt einen jahrzehntelangen Reifeprozess."

Tatsächlich hat Lorenz einige Türhüter hinter sich gelassen, seit er als Sohn armer Bauern in Tristach in Tirol geboren wurde. Ums Überleben sei es in seiner Kindheit gegangen, sagt er, nur ums Überleben. Sein Bruder und er hatten die Wahl zwischen zwei Berufen: Pfarrer oder Bauer. "Ich wusste: Es ist aussichtslos."

Dann aber fiel dem 13-Jährigen ein Heimatroman in die Hände, in dem auch ein Holzschneider eine Rolle spielte. "Als ich das las, war mir, als rammte mir einer ein Messer in die Brust." Nun war klar, was er werden musste. Aber die Mutter konnte ihm nicht das Geld für ein Schnitzmesser geben. Was tat er? "Ich habe dem Nachbarn einen Handel vorgeschlagen: Ich hüte dir das ganze Frühjahr die Schafe, und du gibst mir dafür einen trächtigen Hasen. Der Hase hat Junge bekommen, ich habe sie groß gezogen und verkauft." Den Erlös investierte er in drei Schnitzeisen - der Anfang einer Künstlerkarriere. Seine Ausbildung in einer Tiroler Bildhauerschule schloss Lorenz ebenso mit Auszeichnung ab wie sein Studium an der Münchner Akademie. Doch diese Erfolge hatten ihren Preis: "Seelische Torturen", sagt Lorenz. "Die Erkenntnis: Es hilft dir niemand." In dieser Zeit habe er gelernt, sich seinen Türhütern zu stellen: "Du musst sie dir anschauen. Nur so lassen sich Verkrustungen aufbrechen."

Diese Skulptur hat Leonard Lorenz aus einem mehr als zwei Meter hohen Zirbenblock geschält. Sie ist sein Lieblingsstück in dieser Ausstellung. (Foto: Rüdiger Lorenz)

Mittlerweile liegen mehr als 50 Jahre künstlerischen Schaffens sowie Ausstellungen in New York, Paris, Rom, Berlin und Wien hinter ihm. In Neufahrn, wo er seit Anfang der 80er Jahre lebt, hat er eine alte Scheune in ein fantastisches Atelier umgewandelt: "Ein Biotop, das es mir ermöglicht, wandelbar zu bleiben", nennt Lorenz es. Sein Oeuvre ist ebenso vielseitig wie beeindruckend. Dies dokumentiert ein 260 Seiten starker Bildband, den Lorenz 2013 herausgebracht hat. Monatelang war er mit dem Fotografen Jan Roeder durch die Lande gereist, um all seine Skulpturen, Bronzen und Gemälde noch einmal ins rechte Licht zu setzen.

Drei Jahre Arbeit stecken in der neuen Ausstellung, in der Lorenz 16 Holzskulpturen und 20 Gemälde zeigt - Werke, die mit Gegensätzen spielen, mit Durchbrüchen, Licht und Leere. Er sei sich selbst der schärfste Kritiker, sagt er. "Aber mit dieser Ausstellung habe ich mich überrascht." Mit Weite, mit Leichtigkeit - und etwas, wofür es womöglich keinen Namen gibt.

Artforum Lorenz, Starnberger Straße 103 a, Neufahrn bei Schäftlarn, Vernissage mit Andrea Schumacher (Violine) am Samstag, 4. Juni, 17 Uhr; Matinee mit Hanskarl Kölsch: "Ich und die Welt - Versuch einer literarischen Annäherung" am Sonntag, 5. Juni, 11 Uhr; die Ausstellung ist bis Sonntag, 12. Juni, täglich von 15 bis 19 Uhr zu sehen

© SZ vom 02.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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