Psychotherapie:Essen für die Seele

Der Franzose Thierry Thirvaudey hat in Sterne-Restaurants gekocht. Doch als Kantinen-Chef der Psychosomatischen Schlemmer-Klinik in Bad Tölz hat er gelernt, wie tief eine Mahlzeit einen Menschen innerlich berühren kann.

Von Klaus Schieder

An der Pinnwand hängt eine Grußkarte mit sechs Porträtfotos. Sie zeigen junge Männer und Frauen, die genießerisch ein Dessert auslöffeln. "Ohne den genialen Milchreis ist die Therapie hier zwecklos", steht unter den Aufnahmen. Ein Kompliment für Thierry Thirvaudey. Der Koch aus Frankreich arbeitet in der Psychosomatischen CIP Schlemmer-Klinik in Bad Tölz, wo Patienten mit Borderline-Syndrom, Depressionen, Burnout oder Ess-Störungen behandelt werden. Für sie sollen seine Gerichte ein "Soul Food" sein, eine Art "Umarmung von innen". Gutes Essen sei etwas, das Menschen glücklich mache, sagt der 49-Jährige. Auf feine Speisen versteht er sich. Zuvor hatte er unter anderem in einem Restaurant mit zwei Michelin-Sternen und für Hotels der Luxusklasse gekocht.

Sternekoch Thierry Thirvaudey

Mit gutem Essen unterstützen Chefkoch Thierry Thirvaudey und sein Team die Therapie in der Schlemmer-Klinik.

(Foto: Manfred Neubauer)

Ein leckerer Milchreis ist ein simpler Nachtisch, für Thirvaudey jedoch das beste Beispiel dafür, wie ein Gericht einen der Klinik-Bewohner emotional berühren kann. Drei von vier Patienten erreiche man über Kindheitserinnerungen, sagt der Koch. So könne ein Milchreis dazu führen, dass sich jemand warm und geborgen fühle wie damals in der Familie, als es Milchreis gab. Dasselbe gelte für das hart gekochte Picknickei, das die Mutter einst zum Wandertag mitgab. Thirvaudey erinnert sich auch an einen Patienten aus Norddeutschland, der sich bei ihm bedankte, weil es einmal Sprotten gab. "Er sagte, die hatte ich schon lange nicht mehr, die habe ich immer als kleiner Junge gehabt."

Sternekoch Thierry Thirvaudey

Eine der Spezialitäten von Chefkoch Thierry Thirvaudey: leckere Kekse.

(Foto: Manfred Neubauer)

Die Speisepläne, die der 49-Jährige zusammenstellt, lesen sich indes wie die Menü-Karte eines Gourmettempels. Eintopf von Edelfischen in Bouillabaisesud auf Kartoffel-Kürbisrragout, steht darauf. Oder auch: Zucchinischeiben "Orly" im Backteig mit Tomatenkonfit. Drei Gerichte serviert Thirvaudey täglich den Patienten: eines mit Vollkost, ein vegetarisches, eines als Wahlmenü gegen vier Euro Aufschlag. Mit sieben Köchen und Küchenhilfen, einer Servicekraft und vier Aushilfskräften verköstigt er 130 Klienten und 40 Mitarbeiter der Schlemmer-Klinik. Bei der Auswahl der Lebensmittel achtet er auf hochwertige Qualität, zum Teil kommen sie aus regionaler Erzeugung. Eine Besonderheit ist, dass nicht alle Patienten alles vertragen und dies - anders als in einem Restaurant - berücksichtigt werden muss. Unter ihnen gibt es etwa solche, die mehrere Nahrungsmittelallergien haben. Dies werde mit dem Arzt besprochen, sagt Thiervaudey. Er selbst führe darüber eine kurzes Gespräch mit dem Betroffenen. "Das schafft Vertrauen, denn er weiß, er wird wahrgenommen, und fühlt sich aufgehoben." Was gluten- und laktosefreie Gerichte anbelangt, erlaubt sich der Koch lachend einen kleinen Hinweis: Gebe es Topfenstrudel oder Apfelstrudel mit Vanillesoße, "klagt keiner mehr über Laktoseintoleranz".

Das Menü

Gratinierte Spargel mit luftgetrocknetem Schinken, Tomaten-Ei-Butter und Kartoffeln, Risotto mit gebratenem Gemüse und Grana Padano, Filet Mignon im Speckmantel an Pfeffersauce: Das ist der Mittagstisch für die Patienten der Tölzer Schlemmer-Klinik am Dienstag nächster Woche. Zwölf Wochen lang werden diese Gerichte dann nicht mehr auf dem Speiseplan stehen, zwölf Wochen lang gibt es neue Menüs. Chefkoch Thierry Thirvaudey sieht die lange Vorplanung als Vorteil für seine Arbeit: Mit guter Logistik seien saisonale Produkte und hohe Lebensmittelqualität besser zu bekommen. Aber nicht jeder Patient kann mit den Menü-Beschreibungen etwas anfangen. Thirvaudey erzählt, dass er schon mal gefragt werde, ob er denn "nicht was Gescheites" kochen könne. Und was? "Na, Braten. Schnitzel!" sci

An eine Krankenhausküche hat Thiervaudey wohl kaum gedacht, als er seine zweijährige Ausbildung in der Kochschule in Contrexeville in den Vogesen absolvierte. Sein beruflicher Weg führte ihn danach in meist zweijährigem Rhythmus zu vielen Stationen. Zum Beispiel in das Hotel Concorde in Metz, wo René Pillou ein gestrenges Regiment führte. "Das war das schwerste Jahr meines Lebens", sagt er. Denn unter diesem Meister der klassischen Küche habe er eigentlich erst angefangen zu lernen. Pillou habe ihn jedoch auch spüren lassen, dass er als Koch mehr feines Gespür mitbringe als die meisten anderen, "das ist vielleicht der Grund, warum ich es so lange ausgehalten habe".

Thiervaudey arbeitete in einem Pariser Hotel, einem Restaurant im Elsass, kam 1993 nach Deutschland, erst nach Konstanz, dann in den Alpenhof Murnau. Ein Höhepunkt in seinem Lebenslauf: Er wurde im Schlosshotel Friedrichsruhe in Heilbronn eingestellt, einem Zwei-Sterne-Restaurant unter Küchenchef Lothar Eiermann. Bezahlt wurde er unter Tarif, aber "da geht man hin und ist bereit, aufs Geld zu verzichten". Nach Murnau kehrte er zurück, der Liebe wegen. Er hatte dort seine Frau kennen gelernt, mit der er zwei Kinder hat. Er arbeitete für Feinkost Käfer und das Hotel Überfahrt in Tegernsee, ehe er 2009 nach Tölz kam. Thiervaudey hatte da in seinem Berufsleben schon alles kennengelernt: das Spezialitätenrestaurant mit nur drei Köchen, die Teamarbeit im größeren Gasthaus, die Strukturen eines Luxushotels, die Logistik eines Großcaterers. Er war Pâtissère (Bäckerei), Gardemanger (kalte Küche), Entremetier (Beilagen), kochte in kleinen und großen Brigaden.

Warum also eine Klinik-Kantine? Die Stellenanzeige habe ihn angesprochen, so der 49-Jährige. "Sie haben jemanden gesucht, der nicht nur kocht, sondern der kreativ ist, flexibel." Außerdem habe er hier direkten Kontakt zu den Menschen, da sei "kein Kellner dazwischen". Ihn freut es, wenn eine Patientin seine Speisepläne als Anregung mit nach Hause nimmt. Oder wenn sich eine junge Frau, die wegen einer Ess-Störung behandelt wird, plötzlich das Extra-Menü kauft. An der Pinnwand hängen mehrere Dankesschreiben. Auf einem steht oben einfach nur "Danke für das gute Essen", darunter drängen sich jede Menge Unterschriften aneinander.

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