Ohne Zwänge:Mehr Freiheit im Alter

Der "Werdenfelser Weg" hat dazu geführt, dass Menschen in Pflegeheimen nur ausnahmsweise an Bett oder Stuhl fixiert werden. Im Demenzheim der Arbeiterwohlfahrt gibt es keinerlei Einschränkungen

Von Felicitas Amler, Bad Tölz-Wolfratshausen

Für einen jungen, gesunden und unversehrten Menschen ist es eine Horrorvorstellung: Alt zu sein, gebrechlich, pflegebedürftig - und dann hinter einem Gitter ins Bett gesperrt oder mit einem Gurt am Sitz festgezurrt zu werden. Jahrzehntelang war dies in Pflegeheimen gängige Praxis. Fachleute, von der Pflegekraft bis zum Richter, sagen, man habe sich dabei nicht viel gedacht. Oberstes Prinzip sei die Sicherung des Heimbewohners gewesen. Das hat sich massiv geändert, seit das Modell "Werdenfelser Weg" vor vier Jahren auch im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen eingeführt wurde. Dessen Ziel ist es, freiheitsentziehende Maßnahmen - so der Fachausdruck - zu reduzieren. Hans Lupberger, der das Betreuungsgericht am Amtsgericht Wolfratshausen leitet, sagt, er schätze den Rückgang hier auf etwa 70 Prozent. Wo heute noch Bettgitter oder Gurt am Stuhl benutzt würden, liege es an zwei Faktoren: "Das größte Hindernis ist das finanzielle", sagt Lupberger. "Und man lernt, dass man gegen den Willen der Angehörigen nichts ausrichten kann." Denn deren Bestreben sei eben oft vor allem die Sicherung.

Lupbergers Grundüberzeugung, dass man jede freiheitsentziehende Maßnahme durch eine humanere ersetzen kann, beweist sich am Paradiesweg in Wolfratshausen Tag für Tag. An dieser Adresse hat das AWO-Demenzzentrum seinen Sitz. Es sei bayernweit das einzige Haus, in dem ausschließlich demenziell erkrankte alte Menschen betreut werden, sagt Heimleiter Dieter Käufer. Überall sonst sind Demenzstationen Teile größerer Pflegeheime. Das stellt unterschiedliche Anforderungen an Personal und Ausstattung.

Ohne Zwänge: Im Demenzzentrum wird Ball gespielt. Beschäftigung und Bewegung sind wichtig, damit Heimbewohner nachts nicht unruhig werden.

Im Demenzzentrum wird Ball gespielt. Beschäftigung und Bewegung sind wichtig, damit Heimbewohner nachts nicht unruhig werden.

(Foto: Hartmut Pöstges)

Die Geschlossenheit am Paradiesweg bringt große Vorteile mit sich: Das ganze Haus mit 68 Plätzen ist vom Eingangsbereich bis zum einzelnen Bett nur für Demenzkranke eingerichtet. Und zwar so, dass Gitter, Gurte, Stecktische oder das Absperren von Zimmern einfach unnötig sind. Dieter Käufer und Sozialdienstleiterin Gabi Strauhal können stolz sagen, dass es bei ihnen eine einzige freiheitsentziehende Maßnahme gibt: die Eingangstür. Sie lässt sich nur mit einem Code öffnen; Besucher bekommen dazu beim Betreten des Gebäudes ein Nummernkärtchen. Bewohner erkennen von innen auf den ersten Blick nicht, dass es sich um eine Tür handelt, sie ist bunt bemalt und hat keine Klinke.

Zum Garten hin aber ist eine Tür offen. Dort und im Haus bewegen sich die Bewohner frei. Zur Sicherheit gibt es ein paar Einrichtungsgegenstände, die andernorts nicht unbedingt Standard sind: höhenverstellbare Niederflurbetten, aus denen auch ohne Gitter kein wirklicher Sturz möglich ist; einen Walker, das ist eine Art Rollwagen, aber noch komfortabler und sturzsicher ausgestattet; und einen Cosy-Chair (englisch für behaglicher Stuhl), ein mobiler Pflege- und Ruhesessel, stufenlos verstellbar. Eine der Bewohnerinnen hat in einem Cosy-Chair gerade eine Theateraufführung im AWO-Zentrum mit angeschaut - weich geborgen und ohne Gefahr, aus dem Sitz zu fallen. Auch auf die Schuhe der Bewohner wird geachtet: Schlappen sind schlecht, feste Hausschuhe tragen dazu bei, Stürze zu verhindern.

Ohne Zwänge: Der "Walker" ist Sitz- und Laufmöglichkeit in einem. Er ist so konstruiert, dass der Mensch darin auch ohne Fixierung sicher ist.

Der "Walker" ist Sitz- und Laufmöglichkeit in einem. Er ist so konstruiert, dass der Mensch darin auch ohne Fixierung sicher ist.

(Foto: Hartmut Pöstges)

Im Übrigen wird im AWO-Demenzzentrum mit Licht gearbeitet. Die Erfahrung, dass Menschen grundsätzlich lieber ins Helle als ins Dunkle gehen, wird hier umgesetzt: In den Fluren ist es heller als in den Zimmern - die Leute sollen gern herauskommen in die Gemeinschaft. Die Treppen sind unbeleuchtet, verlocken also nicht gerade zum Betreten; geschieht es dennoch, geht durch Bewegungsmelder Licht an und schafft so wiederum Sicherheit.

Aber die Technik allein macht es nicht aus, dass die Bewohner am Paradiesweg frei sind. Es sind die Grundeinstellung und die Art des Umgangs, die im Heim gepflegt werden. "Freiheit ist das höchste Gut", sagt Käufer. "Wir haben nicht das Recht, die Bewegungsspielräume der Bewohner einzuschränken." Im Gegenteil, hier werden die Menschen zu jeder Art von Bewegung und Beschäftigung animiert. Das beginnt gleich morgens mit dem Vorlesen aus der Tageszeitung ("Natürlich nur die schönen Sachen, nichts über Krieg, aber über das Feuerwehrfest, Kultur, Fußball . . ."). Tagsüber können die Demenzkranken im hauseigenen Garten umherspazieren, sich mit den Ziegen, Gänsen, Enten und bald auch mit Eseln beschäftigen, Betreuer spielen mit ihnen Ball, gehen mit ihnen häufig an die Loisach oder im Sommer zum Schifffahren auf dem Starnberger See ("Immer mit Eins-zu-eins-Begleitung mit ganz vielen Ehrenamtlichen").

Während Käufer dies alles erzählt, laufen ständig Bewohner im offenen Eingangsbereich umher, manchmal gesellt sich jemand zur fremden Gesprächsrunde dazu, grüßt, geht nach einiger Zeit wieder seiner Wege. Derweil tönt aus dem Aufenthaltsraum Gesang: "Hoch auf dem gelben Wagen" . . . Die alten Volkslieder haben sich bei vielen besonders tief im Gedächtnis eingegraben und sind bei einigen noch ganz gut abrufbar.

Vorlesen, gemeinsam singen, spielen und viel spazieren gehen, dies sei wichtig, sagt der Heimleiter, um Unruhezustände gar nicht erst aufkommen zu lassen. Das weiß auch Betreuungsrichter Lupberger. "Man muss die Leute beschäftigen, sie bewegen. Dann sind sie abends müde und haben keinen Bewegungsdrang mehr", sagt er. Soll heißen: Die sogenannte Hinlauftendenz und die Gefahr, aus dem Bett zu krabbeln oder zu fallen, sind gering.

Der Werdenfelser Weg

Die Initiative hat im Jahr 2007 am Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen begonnen. Der Leiter der örtlichen Betreuungsbehörde Josef Wassermann und Amtsrichter Sebastian Kirsch haben die Idee des Werdenfelser Wegs gemeinsam entwickelt. Auf der Internetseite erklärt die heutige Werdenfelser Weg GbR: "Der Werdenfelser Weg hat das Ziel, die Entscheidungsprozesse über die Notwendigkeit freiheitsentziehender Maßnahmen wie Bauchgurte, Bettgitter, Vorsatztische zu verbessern und Fixierungen in stationären Einrichtungen der Altenpflege und für Menschen mit Behinderungen, sowie in somatischen und psychiatrischen Krankenhäusern auf ein unumgängliches Minimum zu reduzieren."

Dieser Idee haben sich bundesweit Menschen angeschlossen. Der Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen ist seit 2011 aktiv dabei. Am Amtsgericht Wolfratshausen ist Richter Hans Lupberger dafür zuständig. Er sagt, wenn man sich erst einmal damit auseinandersetze, seien viele Formen der Fixierung schnell ersetzbar. Lupbergers Maxime als Betreuungsrichter : "Ich sehe die Rolle als Richter in der Bewahrung der Freiheit des Menschen. Die Ausnahmen muss man knapp fassen."

Auf der Internetseite der Initiatoren heißt es zum Erfolg ihres Modells: "Zeitgleich zur Verbreitung des Werdenfelser Wegs konnte bundesweit der jahrzehntelange Trend der ständig anwachsenden Fixierungsgenehmigungen umgekehrt werden. Durch Mithilfe und Verantwortungsübernahme Vieler. Von einem Höhepunkt von 98 119 Genehmigungen bundesweit im Jahre 2010 konnte bis 2013 die Zahl der Genehmigungen bundesweit um 23 Prozent auf 75 727 Genehmigungen reduziert werden." Im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen wird darüber bisher keine Statistik geführt.

Lupberger geht den "Werdenfelser Weg" von dessen Einführung im Landkreis im Jahr 2011 an mit. Er ist es, der jede einzelne freiheitsentziehende Maßnahme in einem der Pflegeheime zu beurteilen hat. Zwei bis fünf Anträge im Monat seien es wohl, schätzt er. Einzeln wird darüber keine Statistik innerhalb des Betreuungsgerichts geführt, das rund 1800 Fälle allgemeiner Betreuung pro Jahr bearbeitet. Lupberger, 59 Jahre alt, kann sich noch gut daran erinnern, wie früher von Amts wegen mit freiheitsentziehenden Maßnahmen in der Pflege verfahren wurde: Tisch am Stuhl, Bauchgurt im Bett, Sitzhose, Bettgitter - "der Richter hat das durchgewunken". Mit dem "Werdenfelser Weg", ausgehend vom Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen im Jahr 2007, habe ein Bewusstseinswandel und ein tief greifendes Umdenken eingesetzt. Inzwischen werde jede einzelne Maßnahme näher geprüft. "Wir haben schnell gesehen, dass vieles ersetzbar war. Es hat sich vermeiden lassen, wenn man die Sache ein bisschen anders betrachtet." Lupberger selbst betrachtet sie so: "Ich sehe die Rolle als Richter in der Bewahrung der Freiheit des Menschen. Die Ausnahmen muss man knapp fassen."

Zur Prüfung jedes einzelnen Antrags auf eine freiheitsentziehende Maßnahme - in der Regel Bettgitter oder Gurt am Stuhl - schickt der Richter eine Verfahrenspflegerin ins Heim. Dort werden der Betroffene und das Personal angehört. Die Verfahrenspflegerin arbeitet unter der Maßgabe des Gerichts, zu verhandeln, ob die Fixierung nicht durch etwas anderes zu ersetzen ist. "Es gehört ein Wille her, von der Einrichtung und von den Angehörigen", sagt Lupberger. Den von ihm auf 70 Prozent geschätzten Rückgang der freiheitsentziehenden Maßnahmen hier im Landkreis sieht der Richter darin begründet: "Weil wir jeden Fall diskutieren."

Das können die Mitarbeiterinnen der Heimaufsicht nur bestätigen. Diese Stabsstelle im Landratsamt trägt heute den Namen "Fachstelle Pflege- und Behinderteneinrichtungen, Qualitätsentwicklung und Aufsicht". Pflegefachfrau Bettina Zorn und Verwaltungsfachfrau Nina Zitzmann sagen, der "Werdenfelser Weg" habe das Bewusstsein verändert und zu mehr Achtsamkeit geführt. "Es hat ein komplettes Umdenken stattgefunden", erklärt Zitzmann. Die Frauen sind mindestens einmal im Jahr unangemeldet in jeder der 19 Alten- und Pflegeeinrichtungen von Icking bis Lenggries; außerdem "anlassbezogen" - das heißt zum Beispiel, nach Beschwerden. In den allermeisten Fällen gebe es "ein gutes Miteinander", sagt Zorn. Aber sie betont: "Wir schauen hin, wir bleiben dran. Und wir können auch unangenehm werden - aber nicht sofort."

Eine Verfahrenspflegerin im Landkreis, die anders als einige andere nicht Krankenschwester ist, sondern Rechtsanwältin, begrüßt den "Werdenfelser Weg" grundsätzlich, weiß aber: "Die Praxis setzt einfach knallhart Grenzen." Man möge sich das einmal ausmalen, sagt sie: Nachts auf einer Heim-Station, 20 bis 25 Bewohner und ein bis zwei Mitarbeiter - "da kann man nicht mehr sagen, lasst alle frei laufen". Der "Urgrund" für Fixierungen, so die Anwältin, sei fast immer Personalmangel. "Aber einen Personalschlüssel von eins zu eins - wer zahlt denn das?

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