Nach dem Feuer:Nichts ist mehr, wie es war

Vanessa Wölm hat bei dem Geretsrieder Neujahrsbrand mehr verloren als nur eine Wohnung - ein Zuhause, das in ein familiäres Umfeld eingebettet war. Jetzt steht die 29-Jährige obendrein vor immensen Kosten.

Von Felicitas Amler

Das Ding stinkt. Grauenvoll. Aber es ist da. Vanessa Wölms Kissen ist nicht verbrannt. Nach drei Wochen hält die junge Frau es endlich wieder in den Händen. Sie weint. Sie weiß, dass das kaum jemand verstehen wird, aber dieses schwere, längliche und abgegriffene Kissen mit den weiß-blauen Blockstreifen ist für sie ein Lebensgefühl: "Mein Zuhause." Die 29-Jährige hat schon als Baby darauf gelegen, und später hat sie es überallhin mitgenommen: "Zur Oma, in den Urlaub ..." Es lag auch an Silvester auf ihrem Bett in der Drei-Zimmer-Wohnung an der Geretsrieder Sudetenstraße. Wölm feierte den Jahreswechsel mit Freunden in einem Lokal im Münchner Glockenbachviertel, als plötzlich dieser Anruf kam: "Deine Wohnung brennt", schrie ihre Freundin Gisela. Wenn sie das erzählt, sagt Wölm einen Satz, den sie bei der Schilderung dieses Tags und der folgenden noch oft wiederholen wird: "Ich habe das nicht geglaubt."

In dem Mehrfamilienhaus der Baugenossenschaft Geretsried an der Sudetenstraße 43 ist an Silvester kurz nach Mitternacht ein verheerendes Feuer ausgebrochen. Die Kriminalpolizei ist inzwischen überzeugt davon, dass es durch ein unsachgemäß aus der Hand abgefeuertes "Römisches Licht" ausgelöst wurde. Das hat sich aus Befragungen ergeben. Wer es gezündet hat, ist bisher nicht bekannt. Der Sachschaden wird auf mindestens eine halbe Million Euro geschätzt. Vier Mietparteien sind betroffen. Ihre Wohnungen sind laut Gutachten auf acht bis zehn Monate absolut unbewohnbar. Vordergründig kann man feststellen: Niemand wurde verletzt. Aber Schocks und Traumata sitzen tief.

Nach dem Feuer: Schwarzes Loch: Im Schlafzimmer sind die Spuren des Brandes nicht zu übersehen. Fenster, Decke, Wände - man kann sich kaum vorstellen, dass hier jemals wieder jemand friedlich schlafen kann.

Schwarzes Loch: Im Schlafzimmer sind die Spuren des Brandes nicht zu übersehen. Fenster, Decke, Wände - man kann sich kaum vorstellen, dass hier jemals wieder jemand friedlich schlafen kann.

(Foto: Hartmut Pöstges)

Ihre Nachbarn habe es noch viel schlimmer als sie getroffen, sagt Vanessa Wölm. Tatsächlich ist die Familie stark mitgenommen; das junge Paar musste sich und das zweijährige Kind vor dem Feuer retten. Ob sie jemals wieder in die Wohnung zurückkehren werden? Für Wölm war gerade diese Nachbarschaft, das Eingebettetsein in ein Umfeld aus Freunden, guten Bekannten, dazu die hervorragende Infrastruktur rund um ihre Wohnung mit Geschäften, dem netten italienische Café direkt im Haus, einer Apotheke gleich gegenüber, so wichtig: "Ein kleines Stück Heimat." Sie habe sich hier so aufgehoben gefühlt wie lange nicht. Vertraut und voller Vertrauen. Die Nachbarin hatte ihren Wohnungsschlüssel, konnte nach den beiden Katzen schauen, wenn sie einmal nicht da war.

Ein junges Paar musste sich und ein zweijähriges Kind vor dem Feuer retten

Die Katzen! "Das versteht niemand, der keine Tiere hat", sagt Wölm. Sie hatte unglaubliche Angst, dass die siebenjährige Katze Lolly und der achtjährige Kater Puki, beide aus dem Tierheim und seit zweieinhalb Jahren bei ihr, in dem Feuer ums Leben hätten kommen können. Sie waren allein in der Wohnung, als Wölm in München feierte und der schreckliche Anruf kam. Die Nachbarin habe noch versucht, die beiden herauszuholen, vergeblich - sie waren nicht zu sehen, ließen sich nicht locken, und es war ja auch schon zu gefährlich. Dann habe sie die Feuerwehr angefleht: "Bitte, bitte, da sind noch Katzen drin!" Der erlösende Anruf kam, als Wölm mit ihrem Freund auf dem Weg von München zurück nach Geretsried war: Einer der Feuerwehrmänner hatte die Tiere gerettet. Sie waren inzwischen bei den Eltern in Geretsried - "total verschreckt" und "krass nach Rauch stinkend", aber in Sicherheit. Die junge Frau hat Tränen in den Augen, wenn sie das erzählt: "Für mich sind das meine kleinen Freunde."

Der eigentliche Schock stand Wölm aber noch bevor. Wie alle anderen durfte sie erst nach einem Tag in ihre Wohnung. Und da dachte sie immer noch: "Vielleicht ist es nicht so schlimm." In Begleitung eines Polizisten und ihres Freundes fuhr sie mit dem Lift hoch in den dritten Stock, sah den Ruß an allen Türen, betrat ihren Flur, alles war stockdunkel, der Strom war ja weg, nur draußen leuchteten die Strahler der Feuerwehr. Was sie sah, war "der schwarze Gang und dieser See". Das Löschwasser habe zentimeterhoch auf dem Boden gestanden: "Wasser und Scherben und überall diese schwarzen Fenster." Ihr Blick fiel auf den Katzenkratzbaum, der wundersamerweise völlig heil geblieben war. Alles nicht so schlimm? Die Dokumente in der Kommode: unversehrt. "Ich war immer noch wie in Watte gepackt." Dann öffnete sie die Tür zum Schlafzimmer, "und um mich rum ist alles weggepufft". Der Raum ein einziges rußiges Loch; die Fenster zerborsten; die Zimmerdecke aufs Bett gekracht: "Alles schwarz, alles unter Wasser, man hat nicht mehr erkannt, was das sein soll." Und plötzlich hatte Vanessa Wölm nur noch einen Gedanken: Wo ist das Kissen? "Wie eine Gestörte habe ich in diesem Müll gesucht ..." Und nichts gefunden.

Nach dem Feuer: Es ist wieder da: Drei Wochen nach dem Brand hat Vanessa Wölm ihr lang gesuchtes Lieblingskissen gefunden.

Es ist wieder da: Drei Wochen nach dem Brand hat Vanessa Wölm ihr lang gesuchtes Lieblingskissen gefunden.

(Foto: Hartmut Pöstges)

Wölm, die in Baierbrunn als Parfümeurs-Assistentin arbeitet, wohnt seitdem teils bei ihren Eltern, teils bei ihrem Freund in München. Sie ist noch krank geschrieben. Die Baugenossenschaft hat ihr für den Übergang eine Ferienwohnung zur Verfügung gestellt: "Sehr schön. Aber dort bin ich verloren. Ich bin da drin und heule." Im Moment fühle sich einfach alles falsch an.

Die junge Frau hofft, dass sie ihr Grundvertrauen ins Leben nicht verloren hat. Sie sei immer ein fröhlicher, positiver Mensch gewesen, habe nie vor etwas Angst gehabt, sei mit dem Snowboard steile Berge beherzt hinabgefahren, wäre auch bereit gewesen, mit einem Fallschirm abzuspringen. Und jetzt? "Ich hoffe, dass ich nicht ängstlich werde. Aber im Moment kann ich mir nicht vorstellen, eine Kerze anzuzünden."

Sie weiß noch nicht, ob sie in ihre drei Zimmer zurückkehren wird, auch wenn die eines Tages saniert sind. Die Wohnung sei eh ein bisschen zu groß gewesen, seit sie nach der Trennung von ihrem früheren Freund allein dort lebte. Aber es habe eben alles rundherum so gut gepasst. Nun hat die Baugenossenschaft ihr eine Zwei-Zimmer-Wohnung angeboten, günstiger natürlich. Sie überlegt. Es sei ja genau wie in einem der Alpträume der vergangenen drei Wochen, in dem die Nachbarin zu ihr sagte: "Nesi, du weißt, dass es nie wieder so wird, wie es war."

Entmüllung, Transport, Neuaunschaffung - das alles geht in die Tausende

Die Träume kämen jede Nacht, sagt Wölm. Und sie enden nicht: "Man wacht auf aus einem Alptraum, und der Alptraum ist wahr." Bis jetzt weiß die junge Frau nicht, was finanziell genau auf sie zukommt. Als am 3. Januar alle Betroffenen, die Vertreter der Baugenossenschaft (BG) und die Gutachter beieinandersaßen - Wölm nennt es "die Krisensitzung" -, da wurde ihr erst richtig bewusst, in welcher Lage sie steckt. Sie hat keine Hausratversicherung. "Als wir aus der Sitzung raus sind, habe ich geheult wie ein Schlosshund." Entmüllung, Entsorgung, Transport, Lagerung, Reinigung und schließlich die nötigen Neuanschaffungen - das alles geht in die Tausende. "Mein Umfeld ist kaputt, und im Hinterkopf habe ich immer das Finanzielle." Bei allen Sorgen ist sie aber zutiefst dankbar. Die Stadt, die Baugenossenschaft, Familie, Freunde, Bekannte, ja selbst Unbekannte spenden nicht nur Trost, sondern auch Geld. "Ohne diese Hilfe wäre ich ruiniert." Und sie dankt all den Leuten, die an Silvester 16 Stunden lang im Einsatz waren, "um unser Zuhause zu retten".

In den drei Wochen seit dem Brand war Vanessa Wölm x-mal in ihrer Wohnung. An diesem Donnerstag ist sie wieder dort und fasst sich noch einmal ein Herz, durchsucht alles, wühlt sich durch die rußigen Sachen, die einmal ihr Zuhause wohnlich gemacht hatten. Und da ist es plötzlich: unter der verbrannten Tagesdecke auf dem Bett - ihr Kissen. Es stinkt. "Aber ich werde es so oft waschen, bis es sauber ist."

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