Mitten in Geretsried:Die Größe der Getroffenen

Eine engagierte Frau, die ihre Religiosität durch ein Kopftuch ausdrückt, begegnet auf der Straße immer wieder einer Radlerin, die sie beschimpft. Von einer Anzeige sieht sie trotzdem ab - aus Gründen

Von Thekla Krausseneck

Mit der Beleidigung ist das so eine Sache. Autofahrer dürften das kennen: Wenn der Kerl in seinem schicken Schlitten meint, er müsse auf der Autobahn rechts überholen, weil die Lichthupe den Weg nicht freigeräumt hat, können die Emotionen schon mal hochkochen - vor allem, wenn sich der Rüpel beim Vorbeiziehen auch noch an die Schläfe tippt. Aber auch, wenn das den Puls minutenlang oben halten kann, nach einer Stunde hat man die Episode dann doch irgendwie verdaut.

Doch es gibt auch andere Beleidigungen, die den Puls hochtreiben, ansonsten aber sprachlos machen. Da ist eine sehr engagierte Frau, die ihre Religiosität durch ein Kopftuch ausdrückt. Und da ist diese andere Frau auf dem Fahrrad, die der ersten immer wieder begegnet ist. "Du Schwein!", schrie sie jedes Mal über die Straße. Irgendwann hatte die erste Frau genug davon, sie rief die Polizei, die die Radlerin aufspürte und - im Einverständnis mit der beleidigten Frau - vor die Wahl stellte: Entweder sie entschuldigt sich oder es gibt eine Anzeige. Sie traf die Wahl, die dem Geldbeutel nicht wehtat. So erzählt es die Frau mit dem Kopftuch gedämpft, eine IT-Fachfrau, die perfektes Deutsch spricht. Es liegt einem geradezu auf der Zunge: Aber warum hat sie denn diese elende Frau nicht angezeigt? Die traurige Antwort wird einem bald von selber klar. Was soll das bringen? Eine Anzeige kann kein verletztes Herz heilen.

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