Mitten auf der Straße:Ein Bild, das bleibt

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Welche Botschaft ein toter Vogel hinterlassen kann

Kolumne von Wolfgang Schäl

Es war ein zu Herzen gehender Anblick: Ein kleiner bunter Vogel, vermutlich eine Blaumeise, lag da auf der Geltinger Straße, er wurde überfahren, direkt beim Gewerbegebiet. Dorthin hatten wir das Auto gebracht, zur Werkstatt, Reifen wechseln. Ob er gleich tot war, weiß man nicht, man kann es nur hoffen. Es war aber nun nicht so, dass nur ein einziges Auto über ihn hinweggerollt wäre, es waren viele, denn das Vögelchen war völlig platt gewalzt, es war gewissermaßen zweidimensional, auf dem grauen Teer der Fahrbahn war ein flinkes, farbenfrohes Wesen zum starren Abbild seiner selbst geworden.

Deutlich, wie gemalt, war zu erkennen, wie der kleine Vogel zu seinen Lebzeiten einmal ausgesehen hat: die Konturen, die Struktur des Gefieders, der leicht geöffnete Schnabel, die gelbe und blaue Farbe, die gespreizten Krallen, der verrenkte Kopf. Eine Verletzung war nicht erkennbar. Gewiss mutet es zynisch an zu sagen, die Meise hätte sich unfreiwillig in ein Bild verwandelt, aber so war der Eindruck. Und ist der Gedanke, der uns bei dem Anblick spontan und unerwartet durch den Kopf gegangen ist, so abwegig? Bilder wollen ja etwas mitteilen, vielleicht provozieren, schockieren.

Die Botschaft, die der kleine Vogel auf der Straße hinterlassen hat, vermittelte jedenfalls sehr eindringlich und realistisch: Da hat jemand, der schwächer war, keine Chance gehabt, wir Autofahrer sind die Stärkeren, unser Anspruch, motorisiert durch die Gegend zu fahren, hat einen Preis, den nicht wir selbst bezahlen. Klingt sentimental, wir denken lieber nicht länger darüber nach, was alles an unsere prima nagelneuen Reifen geraten könnte.

© SZ vom 19.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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