Missbrauchsprozess:Angeklagter flieht, kurz bevor er zu Gefängnis verurteilt wird

Die Opfer-Anwältin ist wütend. Der Richter erklärt, warum er den Mann nicht in Untersuchungshaft nahm.

Von Benjamin Engel und Claudia Koestler, Wolfratshausen

Ein solcher Fall ist Amtsrichter Urs Wäckerlin in Wolfratshausen bislang noch nicht untergekommen: Als er vor knapp zehn Tagen zur Urteilsverkündung wegen schweren sexuellen Kindesmissbrauchs geladen hatte, blieb der Sitz des Angeklagten leer. In einer Nacht- und Nebelaktion war dieser kurz zuvor außer Landes geflohen. Bis heute ist der Mann von der Bildfläche verschwunden, der nach Auffassung des Gerichts seine Nichte schwer missbraucht hatte. Per Haftbefehl wird er derzeit international gesucht.

Das Urteil lautete auf drei Jahre und vier Monate

Seine Flucht ist eine Ungeheuerlichkeit in einem Fall, der allerdings noch weitere Kreise ziehen und die Gerichte weiter beschäftigen wird. Denn obwohl der Verurteilte verschwunden ist, haben sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung Rechtsmittel gegen das Urteil eingelegt, der Fall wird noch einmal aufgerollt - ob er bis dato gefasst ist oder nicht.

Das Amtsgericht Wolfratshausen hatte es allerdings als erwiesen angesehen, dass sich der türkischstämmige Mann an seiner Nichte vergangen hatte, und verurteilte ihn zu drei Jahren und vier Monaten Freiheitsstrafe sowie 10 000 Euro Schmerzensgeld. Das Gesetz lasse zu, einen Angeklagten auch in seiner Abwesenheit zu verurteilen, sofern er sich zu einem früheren Zeitpunkt zur Sache geäußert hat - was in fünf vorherigen Verhandlungstagen geschehen war. Am Vorabend der Urteilsverkündung aber ging beim Wolfratshauser Amtsgericht ein Fax ein: Der Angeklagte erklärte darin, dass er auf Bitten seiner Verwandten in die Türkei habe reisen müssen, um seine herzkranke Mutter zu betreuen. Wann und ob er wieder nach Deutschland kommen werde, dazu machte der Angeklagte keine Angaben.

Die Opfer-Anwältin ist "stinkwütend"

Die Vertreterin der Nebenklage, Rechtsanwältin Cornelia Strasser, wollte bereits nach den ersten Verhandlungstagen eine Fluchtgefahr beim Angeklagten ausgemacht haben: "Ich habe befürchtet, dass er sich dem Verfahren entziehen und absetzen wird", sagte sie. Deshalb hatte sie das Gericht aufgefordert, ihn in Untersuchungshaft zu nehmen. Entsprechend entsetzt und verärgert war sie, als sich ihre Befürchtungen bewahrheiteten: "Ich bin stinkwütend", schäumte sie.

Das Gericht habe, sagte Richter Wäckerlin, durchaus eine Untersuchungshaft erwogen. Seiner Ansicht nach hätte er allerdings nur sehr schwer begründen können, den Angeklagten vor dem Urteil in Haft zu nehmen und ihn so an einer Flucht zu hindern. Der Mann habe von den Anklagevorwürfen gewusst und sei bis dahin zuverlässig zu allen Verhandlungstagen erschienen. Ein Gericht könne, führte Wäckerlin weiter an, bei schwerem sexuellen Missbrauch nur dann vor der rechtskräftigen Verurteilung Untersuchungshaft verhängen, wenn spezifische Haftgründe vorlägen. Laut Wäckerlin zählen zu den wichtigsten Verdunkelungs- sowie Fluchtgefahr.

Doch für letztere müsse das Gericht auf konkrete Tatsachen gestützte Anhaltspunkte heranziehen, sagte der Richter: "Die bloße Vermutung reicht nicht aus." Es sei im konkreten Falle also eine Abwägungssache gewesen. Der Angeklagte sei zwar türkischer Staatsbürger, was ihm ermöglicht habe, in sein Heimatland zu fliehen. Doch gegen eine Flucht sprachen dessen familiäre Bindung in Deutschland. Seine Frau arbeite hier und er sei bei einem Verwandten beschäftigt.

Dem Richter droht der Vorwurf der Befangenheit

Zudem verweist Wäckerlin darauf, dass Gerichte nach einem ungerechtfertigten Haftbefehl schon als befangen abgelehnt wurden. Der Bundesgerichtshof habe bereits Urteile aufgehoben, nachdem das Gericht wegen Befangenheit abgelehnt worden sei. Damit müsste ein Gerichtsprozess wieder von vorne losgehen, sagt Wäckerlin. Und das wäre im konkreten Falle "misslich" gewesen.

Nachdem jedoch klar war, dass sich der Angeklagte abgesetzt hatte, gewährte ihm Richter Wäckerlin eine letzte Chance, die Strafe zu akzeptieren - sofern er sofort zurückkehre und seinen Reisepass am Gericht abgebe. Sonst werde der Haftbefehl in Vollzug gesetzt. "Wenn er sich dem Gerichtsurteil entziehen will, schafft er sich sein eigenes Gefängnis", sagte Wäckerlin. Sobald er an einer Grenze auftauche, werde er festgenommen.

Der Verurteilte hat sich auch bei seinem Verteidiger nicht mehr gemeldet

Auf Nachfrage am Montag erklärte der Richter jedoch, er habe seither nichts mehr von dem Verurteilten gehört. Auch dessen Verteidigerin Gömul Kurt sagte, seit seiner Flucht keinen Kontakt mehr mit ihm zu haben. Ob er zur Berufungsverhandlung auftauchen wird, ist deshalb fraglich, zumal er bei der Einreise sofort inhaftiert würde. Wäckerlin hatte am Ende seines Urteilsspruchs davor gewarnt, Rechtsmittel einzulegen: Denn dann könnte sich die Lage des Angeklagten verschlimmern, weil die Taten zusätzlich auch als Körperverletzung geahndet werden könnten.

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