Lenggries:Ein Zirkus der Integration

In Lenggries trainieren einheimische und Flüchtlingskinder Hand in Hand. Es ist die erste Zusammenarbeit von "Windspiel" und Helferkreis

Von Lisa Fey, Lenggries

Deema, das Mädchen mit dem leuchtend weißen Kopftuch, sitzt auf einem Einrad und lacht. Auch Sara balanciert auf einem Einrad. Gestützt werden die zehn- und zwölfjährigen Mädchen von Trainerin Anita, die in der Mitte steht. Die beiden freuen sich, dass sie mitmachen können. Einräder kannten sie bis vor wenigen Tagen nicht. Sara wusste nicht einmal, was ein Zirkus ist. Deema stammt aus Syrien, Sara aus Afghanistan. Die Familien der Mädchen waren unter den ersten, die aus ihren Heimatländern geflohen und in Lenggries untergekommen sind. Deemas Familie ist anerkannt und hat eine Wohnung in Lenggries gemietet. Das Mädchen besucht die Mittelschule Lenggries und hofft, bald aufs Gymnasium gehen zu dürfen.

Ihre Schule hat sich für fünf Tage in einen Zirkus verwandelt. Wo sonst das alltägliche Schulleben stattfindet, jonglieren, balancieren und turnen seit Montag 78 Fünf- bis 16-Jährige jeden Tag von 10 bis 15 Uhr. Das Besondere an diesem Projekt ist die erstmalige Zusammenarbeit zwischen dem Zirkus "Windspiel" und dem Helferkreis Asyl Lenggries. Ein Drittel der Kinder und Jugendlichen sind Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Nigeria, Somalia und Irak. Das Motto der Zirkuswoche ist: "Vorhang auf: Wir lernen voneinander, trainieren miteinander und zeigen gemeinsam, was wir können". Am ersten Tag seien alle etwas aufgeregt gewesen, erklärt "Windspiel"-Gründerin Gudrun Jäger.

Lenggries: Einradfahren mit Sara, Anita und Deema.

Einradfahren mit Sara, Anita und Deema.

(Foto: Harry Wolfsbauer)

Doch bereits am zweiten Tag sei die Aufregung verflogen. Den Kindern und Jugendlichen solle Selbstsicherheit vermittelt werden. Es sei wichtig, auch die Gemeinsamkeiten von Flüchtlingen und Lenggriesern zu betonen, sagt die Asylsozialberaterin des Helferkreises, Annette Ehrhart: "Es ist rührend, wie die Kinder einander helfen." Die restlichen Teilnehmer sind vor allem die Kinder der Lenggrieser Flüchtlingshelfer. So soll die ehrenamtliche Arbeit belohnt werden.

Auf dem Schulhof versuchen sie sich nun im Einradfahren, alleine, zu zweit oder sogar zu dritt an der Hand. Die Trainer helfen dabei. In der Turnhalle warten zahlreiche Kinder darauf, am Trapez turnen zu dürfen. Andere schweben an den roten, von der Decke hängenden Vertikaltüchern über dem Boden der Halle. In einer Ecke hat sich die Jongliergruppe eingerichtet. Sie jonglieren mit roten, orangefarbenen, grünen und blauen Tellern - manche Kinder mit mehreren gleichzeitig. Andere üben mit Diabolos, zwei miteinander verbundenen Halbkugelschalen mit einem Seil und daran befestigten Holzstäben, in der Luft zu jonglieren. Beim Percussion-Workshop trommeln die Kinder rhythmisch auf Schlaginstrumenten. Andere versuchen sich an Hochstelzen oder balancieren auf einem Drahtseil.

Lenggries: Danach müssen die kleinen Artisten auch mal Pause machen.

Danach müssen die kleinen Artisten auch mal Pause machen.

(Foto: Harry Wolfsbauer)

15 ausgebildete Zirkuspädagogen betreuen und trainieren sie dabei. Silke Reichert, Trainerin in der Zirkusschule, trägt ein scheinbar schlichtes schwarzes T-Shirt. Es stammt von der Designerin Ayzit Bostan. In weißer Schrift leuchtet die arabische Übersetzung für "Imagine Peace", einer Textzeile aus dem Lied "Imagine" von John Lennon. "Das ist doch irgendwie passend", sagt Reichert. Verständigungsprobleme habe es trotz der Sprachvielfalt unter den Kindern und Jugendlichen nicht gegeben. Zu den Trainern gehören auch Svenja Heimstädt und Daniel Seyler. Die beiden 18-jährigen Schüler aus Nürnberg und Augsburg sind in ihren Ferien angereist, um bei dem Projekt mitzuwirken. Sie kennen einander von anderen Zirkuswochen. Daniel ist seit zwei Jahren bei der Zirkusschule, Svenja seit einem Jahr. Sie war vor zehn Jahren selbst als Kind beim Zirkus "Windspiel". Für eine Woche ist die Mittelschule Lenggries neben einer Manege nun auch ihr Schlafplatz.

Deemas Brüder, der zehnjährige Mohammed und der fünfjährige Abdullah, sind ebenfalls bei der Zirkuswoche dabei. Mohammed besucht die vierte Klasse der Mittelschule Lenggries. Dort habe er viele Freunde gefunden, sagt er. Gemeinsam mit ihrer neunjährigen Cousine Islam sind sie seit Oktober 2014 in Deutschland. Deemas Familie kommt aus der syrischen Stadt Nawa, welche im Süden des Landes im Gebiet Dar'a liegt, nur wenige Kilometer von der jordanischen Grenze entfernt. Dar'a und Nawa, das sei wie das Land Bayern und die Stadt München, erklären Deema und ihre Cousine.

Lenggries: Leni turnt am Vertikaltuch.

Leni turnt am Vertikaltuch.

(Foto: Harry Wolfsbauer)

Deemas Großcousin Mousaab, 18 Jahre alt, ist seit neun Monaten in Deutschland. Er macht ausnahmsweise schon tagsüber mit. Eigentlich versuchen sich die Erwachsenen erst abends in den Workshops, von 19 bis 21 Uhr können auch sie an den Vertikaltüchern turnen oder andere Workshops besuchen. Am ersten Abend haben fünf Flüchtlinge teilgenommen. "Sie haben gleich telefoniert und den anderen davon erzählt", sagt Ehrhart. Mit Erfolg. Am darauffolgenden Abend seien es bereits 15 Teilnehmer gewesen. Die Flüchtlinge seien talentiert, erzählt Ehrhart begeistert. Sie zeigt Bilder von zwei jungen Männern, die übereinander auf dem Trapez stehen oder bereits beim ersten Versuch erfolgreich an den Vertikaltüchern turnen.

Um 12 Uhr legen die jüngeren Artisten die Zirkusrequisiten für eine einstündige Mittagspause zur Seite. Dazu müsse man die Kinder zwingen, sagt Ehrhart und lacht. "Wir sagen dann, dass die Einräder auch mal eine Pause brauchen", erklärt Jäger und schmunzelt. Bevor die Kinder ihre Brotzeit und das vom Helferkreis Asyl und den Lenggrieser Geschäften gespendete Obst, Gemüse und Gebäck vertilgen dürfen, wird noch ein besonderes Spiel gespielt. Alle Kinder gehen in die Turnhalle. Sie spielen "Zirkussteine", legen sich auf den Boden und entspannen sich. Es wird ruhig in der Turnhalle. Die "Zirkusfeen", das sind die Zirkuspädagogen und Trainer, stupsen jeden Einzelnen an und wecken ihn aus seinem "Schlaf". Nach der Mittagspause geht es weiter mit dem Training.

Am Freitag, 19. August, findet von 15 Uhr an in der Turnhalle eine Gala-Veranstaltung statt. Die Kinder und Jugendlichen zeigen, was sie gelernt haben. Anschließend gibt es ein internationales Buffet, die Eltern der Flüchtlingskinder bereiten dafür verschiedene Spezialitäten zu. Der Erlös des Buffets wird an die Zirkusschule gespendet. Denn die verlangt sonst kein Geld für das Projekt. Bis dahin wird weiterhin fleißig geübt, hingefallen, gelacht und gemeinsam wieder aufgestanden. Schließlich soll es ja weitergehen.

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