Kochel am See:Schatztruhe voll alter Schuhe

In einem Anwesen an der Kochler Bahnhofsstraße lebten seit 1622 Schuster. Nun ist der letzte von ihnen gestorben - und das Haus soll zur "Kulturwerkstatt" werden

Von Petra Schneider, Kochel am See

Wenn man das alte Schusterhaus in Kochel betritt, scheint es, als hätten die Bewohner das Haus soeben verlassen. "Schuhhaus Josef Schöfmann" steht ein bisschen verblasst an der Hauswand. Im kleinen Verkaufsraum gleich hinter der Eingangstür stapeln sich Schachteln, in den meisten sind noch Schuhe. An der Tür zur Werkstatt wirbt ein handgeschriebener Zettel: "Verkauf von Einlegesohlen Schuhkremen Schuhbändern".

In der Werkstatt stehen urgroßväterliche Maschinen: Eine Singer-Nähmaschine, ein Ungetüm aus dem Jahr 1903, mit dem das Leder weich gemacht wurde, Holzleisten in verschiedenen Größen, Garnrollen. Seit dem Jahr 1915 gibt es im Schusterhaus elektrisches Licht. Eine "Abortanlage" wurde 1950 eingebaut, zuvor mussten die Bewohner das Plumpsklo im Stall benutzen. Kalt ist es in der Werkstatt, ebenso in den Schlafzimmern im Obergeschoss. Nur in der Küche sorgt ein alter Holzofen für gemütliche Wärme. Warmwasser? Fehlanzeige. Trotzdem ist in diesem museumsreifen Haus vor nicht allzu langer Zeit noch gelebt und gearbeitet worden: Bis zu seinem Tod im Jahr 2010 hat hier der Schuster Josef Schöfmann gewohnt. Seine Schwester Anni war für den Schuhverkauf zuständig. Sie ist zwei Jahre vor ihrem Bruder gestorben. Beide waren kinderlos, im Jahr 2014 hat die Gemeinde das Anwesen gekauft.

Denn in dem denkmalgeschützten Gebäude, das erstmals im Jahr 1581 in den Stiftsbüchern des Klosters Benediktbeuern erwähnt wird, will der "Verein für Heimatgeschichte im Zweiseenland Kochel" eine "Kulturwerkstatt" einrichten: Eine Dauerausstellung in den Wohnräumen und der Werkstatt, die mit Ereignissen von Ortsgeschichte und Weltpolitik verknüpft werden soll. In der ehemaligen Tenne soll ein Ausstellungs- und Veranstaltungsraum entstehen, im Stall will der Verein einen kleinen Ausschank betreiben. Eine Art Mini-Glentleiten also, auch wenn Max Leutenbauer den Ausdruck nicht besonders mag. Denn das Schusterhaus verfüge über "Alleinstellungsmerkmale", sagt der Förster, Gemeinderat und Hobby-Historiker: Es stehe am Originalstandort, und die Exponate "werden bei uns nicht zusammengetragen, sondern so platziert, wie sie bis 2010 benutzt wurden."

Das Anwesen in der Kochler Bahnhofsstraße, in dem seit dem Jahr 1622 Generationen von Schustern lebten, ist für Historiker eine wahre Fundgrube: Weitgehend im Originalzustand erhalten und dank der Aufbewahrungsleidenschaft seiner Bewohner überreich an Exponaten. "Dachboden und Balkon waren vollgestellt mit ausrangierten Möbeln und Einrichtungsgegenständen", erzählt Vereinskollege und Architekt Michael Holzer: Eine Trockenhaube aus den 1970-er Jahren, Spinnräder, Holzski, klapprige Fahrräder, Schlitten. Auch Kisten voller Rechnungen fanden sich, die praktisch jede Neuanschaffung und Veränderung im Haus dokumentieren. Sogar die Ausgaben für die Hebamme bei der Geburt der kleinen Anna aus dem Jahr 1925 wurden aufgehoben und die Rechnung für den Kommunionsanzug ihres Bruders Josef von 1941. "Für Sepperl ein Anzug" steht in fein geschwungenen Buchstaben auf der Rechnung.

All das soll im Schusterhaus nun gezeigt werden, auch Wechselausstellungen aus dem Archivbestand der Gemeinde will der Verein organisieren. Denn seit fast 100 Jahren lagern im Speicher des Rathauses Unmengen von Exponaten und Urkunden, die der 2008 gegründete Heimatverein mit derzeit 65 Mitgliedern sichtet und katalogisiert. Eine mühevolle Arbeit, die aber praktisch "witzlos" sei, wie Holzer sagt, weil Bürger normalerweise keine Einsicht in das reiche, historische Erbe der Gemeinde nehmen könnten und es in Kochel kein Heimatmuseum gibt.

Die Lücke könnte die Kulturwerkstatt im Schusterhaus nun schließen. Dort soll in der ehemaligen Tenne, ausgestattet mit neuer Technik, ein Raum für wechselnde Ausstellungen, Lesungen oder Konzerte eingerichtet werden. Auch Künstler könnten den etwa 80 Quadratmeter großen Raum mieten, den die Vereinsmitglieder erst einmal von einer dicken Heuschicht befreien mussten.

Im ehemaligen Stall, dessen Boden noch mit blanker Erde bedeckt ist, will der Verein ein kleines Café betreiben - keine professionelle Gastronomie, sondern einen Treffpunkt, wo sich Besucher bei Veranstaltungen unterhalten und auf der künftigen Terrasse den Blick über Rabenkopf und Jochberg genießen können. Auch ein "Museumsladen" im ehemaligen Schuhverkaufsraum ist angedacht, in dem historische Postkarten und Publikationen des Vereins verkauft werden könnten.

Äußerlich verändert darf am Haus nichts werden, einige behutsame Umbauten hat Architekt Holzer bereits beim Landratsamt eingereicht: Eine Treppe soll auf den Tennenboden führen, der mit einer Glasfront abgetrennt wird, ein Holzsteg soll als Bühne eingebaut werden. Im nicht denkmalgeschützten Anbau aus den 1950-er Jahren will der Architekt Toiletten, Heiz- und Lagerräume unterbringen. Der 67-Jährige ist als kleiner Bub selbst in einem museumsreifen Bauernhaus aufgewachsen: Im Hodererhof, der in den 1970-er Jahren als erster in Kochel abgebaut und im Freilichtmuseum Glentleiten wiederaufgebaut wurde. Für Holzer ist die Bewahrung der Heimatgeschichte eine Herzensangelegenheit. Vor allem für junge Menschen sei das wichtig. "Ich muss meinen Enkeln erzählen, wie es bei uns früher war", sagt er. "In der Schule lernen die Kinder das nicht mehr."

Finanzieren will der Verein die Kulturwerkstatt aus Fördermitteln, etwa von der "Deutschen Stiftung Denkmalschutz", aus Spenden, Eigenmitteln und mit Zuschüssen der Gemeinde. Holzer und Leutenbauer hoffen, dass sie 2018 eröffnet werden kann. Einige ortsansässige Handwerker hätten ihre Unterstützung zugesagt, auch im Verein seien viele Leute, die sich einbringen. Alles ehrenamtlich versteht sich. "Und wenn wir dann gestorben sind, kriegen wir eine schöne Ansprache vom Bürgermeister", sagt Holzer und lacht.

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