Kochel am See:"Kein Wunschkonzert"

Bei einer Podiumsdiskussion in der Vollmar-Akademie Kochel suchen die Bundestagsabgeordneten Radwan und Barthel sowie Landrat Josef Niedermaier nach den Gründen für die Politikverdrossenheit

Von Suse Bucher-Pinell, Kochel am See

Welchen Bürger sich Politiker wünschen, dafür braucht es keine lange Überlegung: einen, der aktiv mitmacht, der "von der Fußballtribüne herunter aufs Spielfeld kommt". Bundestagsabgeordneter Alexander Radwan (CSU) wählt für seine Antwort ein Bild aus der gerade so gefeierten Fußballwelt, als er am Samstagabend in der Georg-von-Vollmar-Akademie nach seinem Wunsch an den idealen Bürger gefragt wird. Allerdings stellt er auch klar: "Politik ist kein Wunschkonzert, Politik ist ein Kompromiss." Kompromisse aber wolle kaum einer mehr mittragen. "Heute geht es um 100 Prozent oder gar nicht", sagte Radwan. Warum das so ist, wurde nur ansatzweise geklärt.

Zwei Tage lang beschäftigten sich Studenten der Hochschule für Politik München - Bavarian School of Public Policy (HfP) in Kochel am See mit dem Thema Politikverdrossenheit der Bürger, mit deren Symptomen, Ursachen und Lösungen. Eine Podiumsdiskussion mit drei Politikern, welche die Bundes, Landes- und kommunale Ebene vertraten, sollte den Blick von der anderen Seite auf die Misere richten: vom Politiker auf die Bürger. Der Bundestagsabgeordnete Klaus Barthel (SPD) beobachtet seit Jahren eine große Distanz der Bürger zu allen politischen Ebenen. "Die Politik ist für sie weit weg", sagte er. Die meisten wollten mit Politik nichts zu tun haben. Er erinnerte an frühere Zeiten, als in den 1970er Jahren Politik Teil des Alltags der Menschen gewesen und überall politisiert worden sei. Damals habe die Wahlbeteiligung historische Höhen von 90 Prozent erreicht, heute habe sie sich auf niedrigem Niveau stabilisiert. Und ausgerechnet die der Kommunalwahl liege mit am tiefsten. "Der Bürger hat offenbar ein bestimmtes Bild, wo es sich lohnt zu wählen", sagte er. Das sei in erster Linie die Bundestagswahl.

So pauschal negativ nimmt Landrat Josef Niedermaier (Freie Wähler) das Politikinteresse nicht wahr. Zwar bestätigte er, dass sich auch auf kommunaler Ebene viele Bürger nicht für Politik interessierten. Allerdings nur so lange, bis Entscheidungen über "ihren Gartenzaun" gelangten, dann würden "alle Register gezogen". Es bestehe das Prinzip: ganz oder gar nicht. Dabei bräuchte es bei so vielen Themen eine politische Diskussion. "Das ist den Bürgern aber wurscht", sagte er.

Eine Ursache dafür benannte Barthel. Er sieht diese Entwicklung verknüpft mit einem hohen Maß an Resignation bei den wirtschaftlich Schwächeren. Es lasse sich wissenschaftlich belegen, dass Engagement mit Besitz korreliere. "Je weniger Einkommen, desto weniger engagieren sich die Leute in der Politik", sagte er. Nur wer etwas zu verlieren habe, artikuliere sich, beispielsweise wenn es darum gehe, einen Quadratmeter Grund für einen Kindergarten oder einen Radweg abzutreten. Barthel übte aber auch Kritik an seiner eigenen Kaste, wenn "die da oben machen, was sie wollen", ein Vorwurf, den auch viele Bürger formulieren. Jüngstes Beispiel Mindestlohn. Ehe das Parlament über den Gesetzentwurf beraten habe, hätten die Parteispitzen wesentliche Änderungen beschlossen. "Ich vertrete den Kompromiss, wenn er auf saubere Art und Weise zustande gekommen ist", sagte er. Dieses Procedere aber verurteile er wie viele Bürger auch. Die zahlreichen Bürgerinitiativen und Bewegungen könnten Parteien nicht ersetzten. "Sie vertreten nur bestimmte Interessen, die sie alleine nicht durchsetzen können."

Ob es Politikverdrossenheit ausdrückte, dass von den anwesenden zwölf Studenten nur drei die Hand hoben auf Radwans Frage, wer vorhabe, in die Politik zu gehen, blieb offen. "Wenn Sie das nicht aus eigener Überzeugung wollen und es nicht mit Leidenschaft tun, dann lassen Sie es sein", gab er ihnen mit auf den Weg. "Wenn Sie fragen, was bietet ihr mir an, dann gehen Sie lieber in die Wirtschaft."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: