Kochel am See:Dem Alltag entkommen

Wer beim Wikingermarkt mitmacht, lässt für diese Zeit vieles hinter sich: Handy, Elektrizität, Computer

Von Pia Ratzesberger, Kochel am See

Der Märchenerzähler spricht, die Menge johlt. Name für Name ruft der Mann mit der Nickelbrille und den langen grauen Haaren die Vereine und Gruppen auf, die sich um ihn versammelt haben. Die Schilder mit den jeweiligen Logos werden gen Himmel gereckt, Lippen zum Jubel gespitzt, Hände zum Applaus formiert. Eben sind die Lagerleute hier am Walchensee offiziell eingezogen, auf das Gelände des Wikingerparks Flake, in dem am Wochenende der alljährliche Markt stattfindet.

Die meisten Männer und Frauen im Wikingergewand sind schon am Donnerstagabend angekommen und haben die Nacht in großen Zelten aus Leinen verbracht. Alle bemühen sich um authentische Kleidung, damit nichts die Zeitreise stört. Nicht nur um der Besucher, sondern um ihrer selbst willen: Für viele bedeuten diese Markttage am Walchensee eine Flucht aus dem Alltag, aus dem modernen Leben mit stets leuchtenden Bildschirmen, Stress in der S-Bahn und Terminhetze. Während andere zum Abschalten ins Gebirge fahren oder ins Spa, ziehen diese Menschen ihr Gewand über, das sie in andere Jahrhunderte zurückversetzt. Sarah Hörath zum Beispiel ist aus München angereist, auf einer Bank am Feuer fertigt sie Socken aus Wolle. Um die Schultern trägt die 24-Jährige ein Fuchsfell, an den Füßen Schuhe aus Holz. Ob sie die auch abseits solcher Märkte anzieht? Nein, sagt Hörath. Für sie als Ingenieurin wäre das wenig passend. Die Faszination solcher Events mache doch gerade aus, dass man in eine andere Rolle schlüpfe. Außerdem: die Gemeinschaft. Die meisten Gruppen kennen sich untereinander, abends, wenn die Besucher weg seien, sitze man am Feuer beisammen, bis es hell werde, sagt sie. Das sei der gemütlichste Teil des ganzen Wochenendes.

Noch aber ist bis dahin viel Zeit, noch ist Mittag und der Regen verleiht dem sonst so türkisblauen Walchensee ein trübes Grau. Bisher schlendert nur eine Handvoll Besucher über das Gelände, das schlechte Wetter hat wohl viele abgeschreckt.

Von den offenen Feuerstellen wehen hin und wieder Funken herüber, an einem Stand schlägt ein Schmied Metall, an einem anderen kocht eine Frau Zwiebeln, um mit dem Sud Wolle einzufärben. "Vielen denken ja immer, dass das Mittelalter nur dunkel und grau war, dabei stimmt das gar nicht", sagt Jasmin Kroh, gelernte Rechtsanwaltsfachangestellte. Auch sie trägt um die Schultern ein Fuchsfell, neben ihr liegen in einem großen Korb Wollknäuel in allen Farben. Mit Hilfe der Zwiebeln werde die Wolle gelb, mit bestimmten Läusen etwa rosa.

Ob sie oft mit Vorurteilen konfrontiert werde? Die 34-Jährige überlegt kurz, dann sagt sie: "Die meisten Besucher können sich nicht vorstellen, dass wir ein ganz normales Leben haben, die denken, dass wir immer irgendwo lagern."

"Lagern", dieses Wort fällt hier oft. Genau wie "gewanden" - verkleiden wäre das falsche Wort für die Wikinger, heißt es dann. Das klinge schließlich mehr nach Fasching als nach ernst zu nehmendem Hobby. Einmal habe sie jemand gefragt, ob ihre Kinder denn auch zur Schule gingen, sagt Kroh. Über solche Nachfragen kann sie nur den Kopf schütteln. Ihr Mann, der gerade einem Besucher von den Vorteilen eines Baumwollzelts erzählt, arbeitet in der Entwicklungsabteilung von BMW.

Ein paar Schritte weiter hat sich ein junger Krankenpfleger, natürlich auch er in Wikingerkluft, mehr als 17 Kilo auf den Körper geladen, so schwer wiegt sein Kettenhemd. Dazu der Helm aus Stahlblech, der nur um die Augen ein wenig Luft lässt. Der Langsax, ein Schwert, steht schon bereit. Später werde hier auf der großen Wiese eins gegen eins gekämpft, sagt der 21-Jährige. Natürlich nur spaßeshalber, ohne scharfe Klingen. Kampftechnik lerne man aber dennoch.

"Wir tun hier viel, was andere längst vergessen haben: kämpfen, dem Wetter trotzen, Feuer machen", sagt Helmut Hanus, der gemeinsam mit einer Gruppe da ist, weil mit "vui Leit" auszurücken nun einmal mehr Spaß mache - alle kommen aus dem Raum Bad Tölz. Seine Leidenschaft für frühere Zeiten könnten hier in der Region nicht immer alle verstehen, sagt der 44-jährige Forstwirt Hanus. Manche fragten durchaus, warum er an einem Tag überzeugt Tracht trage und am anderen plötzlich einen mittelalterlichen Klappmantel. Hanus aber weiß auf solche Fragen zu entgegnen: "Wenn ich das nicht trage, habt ihr nichts zum Anschauen, und genau deswegen kommt ihr doch zum Markt." Ein Klappmantel verlange von seinem Träger eben Selbstbewusstsein. Genau wie die bayerische Tracht.

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