Interview:"Wir sind eine tief gespaltene Gesellschaft"

Interview: Michael Müller sagt zum Streit über Asyl: "Ich bin nicht glücklich mit der Gesamtsituation."

Michael Müller sagt zum Streit über Asyl: "Ich bin nicht glücklich mit der Gesamtsituation."

(Foto: Hartmut Pöstges)

Geretsrieds Bürgermeister Michael Müller (CSU) zum Asylkompromiss der Union und den Hintergründen eines veränderten Klimas

Von Felicitas Amler

SZ: Herr Müller, Im Jahr 2015, als mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kamen, ging eine Welle an Mitgefühl, Hilfsbereitschaft und Solidarität durchs Land. Deutschland sei, so haben Sie damals formuliert, "erstmals in der Nachkriegsgeschichte als ein Land der Hoffnung wahrgenommen worden". Warum hat das Klima so umgeschlagen?

Michael Müller: Ich glaube, wir sind eine tief gespaltene Gesellschaft, in der die Schere auseinandergeht und nicht mehr alle am Wohlstand teilhaben und sich sozusagen als Transformator für ihren Unmut andere suchen.

Spüren Sie das in Geretsried?

Das spürt man hier auch. Es gab hier eine große Welle der Hilfsbereitschaft und das Thema Flüchtlinge wurde hier sehr offen aufgenommen. Am deutlichsten wurde das bei 1200 Gegendemonstranten zu 200 AfD-Demonstranten. Aber wir können ja auch nicht wegdiskutieren, dass wir in Geretsried eines der höchsten AfD-Ergebnisse hatten (25,4 Prozent bei der Bundestagswahl in Geretsried-Stein, Anm.d.Red.). Das zeigt, dass es Teile der Bevölkerung gibt, die nicht mit der Politik einverstanden sind. Wenn Sie sich anschauen, wo, dann sehen Sie eine Korrelation mit Sozialdaten. Wir haben eine Gesellschaft, in der nicht mehr jeder glaubt, Gewinner des allgemeinen Wohlstands zu sein, und es auch objektiv nicht ist. Und die Menschen projizieren das auf die Flüchtlinge.

Das ist die Sicht eines Teils der Bevölkerung. Aber was ist mit der Politik? Sie haben sich x-fach zu einer liberalen Flüchtlingspolitik, zu einem offenen Europa bekannt. Wie stehen Sie zur Politik der Abschottung, die Ihr Parteivorsitzender Horst Seehofer durchsetzen will?

Es ist auf der einen Seite der Versuch, Strömungen aus der Gesellschaft aufzunehmen, aber auf der anderen Seite auch das Risiko, etwas aufzugeben, was man sich über viele Jahre und Jahrzehnte erarbeitet hat, nämlich die offene Gesellschaft.

Und wie beurteilen Sie das?

Ich kann nur hoffen, dass wir uns am Ende bei einer nüchternen Betrachtung wieder darauf besinnen, was unsere eigentlichen Werte sind. Wir sind über Jahrzehnte als Deutsche dafür gescholten worden, dass wir - was ja auch wahr war - mit Stiefeln durch Europa marschiert sind und die Welt erschreckt und malträtiert haben. Aber heute werden wir dafür kritisiert, dass wir weltoffen sind und Menschen aufnehmen.

Von einigen, aber doch nicht von allen.

Das europäische Ausland tut das. Die Kritik lautet, Deutschland habe die Grenzen aufgemacht. Das muss man sich schon auf der Zunge zergehen lassen. Und jetzt, glaube ich, beginnen Strömungen zu wirken: Menschen, die Angst davor haben, dass man diese Entwicklung nicht mehr beherrschen könne, reagieren vielleicht auch mit Abschottung. Aber man kann in einer offenen Welt sich nicht dauerhaft abschotten.

Sie sind ja Teil der CSU. Gibt es denn innerhalb Ihrer Partei eine Auseinandersetzung über dieses Thema?

Was das konkret gerade in Berlin angeht, das ist natürlich nicht mit der Basis besprochen. Aber es gibt Diskussionen, wir sind ja nach wie vor eine demokratische Partei.

Und was ist mit Stimmen wie der Ihren? Werden die gehört?

Also, ob ein Herr Seehofer mich persönlich hört - den Anspruch erhebe ich ja gar nicht. Aber am Ende hat ja auch ein bisschen ein Zurückrudern stattgefunden, als man gemerkt hat, wie die Stimmergebnisse sind. Es haben ja auch Anhänger der CSU verstört reagiert. Es ist eben in der Politik nicht immer alles alternativlos, wie es die Bundeskanzlerin repräsentiert, und man muss unterschiedliche Lösungswege schon diskutieren.

Welche?

Man muss schauen, dass man die europäischen Partner wieder ins Boot holt. Aber momentan ist das unglaublich schwierig, weil die Populisten in Ungarn, in Polen, selbst in Österreich die Oberhand haben.

Ungarn, Polen, Österreich - ist das, was Seehofer vertritt, nicht auch Populismus?

So nicht, weil wir ja in Deutschland, auch in Bayern, Flüchtlinge in großer Zahl aufgenommen haben.

Das war so. Aber was Seehofer jetzt vertritt, ist das nicht derselbe Populismus?

Man kann das nicht gleichsetzen. Es ist schon noch ein qualitativer Unterschied. Es ist dieses Spannungsverhältnis zwischen einem tatsächlich gelebten Liberalismus und einer Sorge, mit dieser Offenheit am Ende nicht umgehen zu können.

Die CSU fordert sogenannte Transitzentren. Also keine offenen Grenzen mehr, sondern Kontrollen allenthalben. Das ist ja nun die Entscheidung.

Mir persönlich wäre lieber gewesen, man hätte eine europäische Lösung gefunden und eine Außengrenzensicherung gemacht. Wir wälzen ja im Grunde jetzt das Flüchtlingsthema auf die Schwächsten in der Europäischen Union ab , wie Griechenland, und auf die, die am ungünstigsten liegen, wie Italien. Und damit verlagern wir auch diese Frage des Humanismus an Länder wie die Türkei, die sicher nicht mit den Standards mithalten können, wie wir sie in Europa haben. Das ist eine insgesamt bedenkenswerte Entwicklung, gleichwohl wir sicher nicht den Anspruch erheben können, alle Flüchtlingsprobleme lösen zu können.

Glücklich sind Sie also nicht mit dem, was gerade in Ihrer Partei läuft?

Ich bin nicht glücklich mit der Gesamtsituation. Aber ich weiß, dass es schwierig ist, in dem Spannungsverhältnis jetzt die richtigen Entscheidungen zu treffen.

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