Geretsried:Schlagen statt schlägern

Waleri Weinert ist selbst "auf der Straße aufgewachsen". Mit seinem Boxklub Edelweiß hilft er Jugendlichen, nicht auf die schiefe Bahn zu geraten.

Von Thekla Krausseneck

Waleri Weinert hat etwas zu bieten, was den meisten Geretsrieder Jugendarbeitern abgeht: die Erfahrung am eigenen Leib. "Ich bin in der Sowjetunion auf der Straße aufgewachsen", sagt er. "Ich spreche dieselbe Sprache wie die Jungs. Ich kenne die Probleme." Er zeigt aus dem Fenster quer über die Jeschkenstraße auf das Gebäude der Polizeiinspektion: "Ich weiß mehr über Jugendliche, als die, die da drüben sitzen." Er selbst wäre wohl auch auf die schiefe Bahn geraten, wenn der Sport ihn nicht davor bewahrt hätte, sagt Weinert. Um den Jugendlichen in Geretsried dieselbe Chance zu geben, hat er vor 15 Jahren den Integrativen Sporttreff "Edelweiß" gegründet. Jetzt hat dort wieder ein Boxturnier stattgefunden, bei dem die Jugendlichen ihr Können unter Beweis stellen durften.

In seinem kleinen Büro, das im Raum neben dem Boxring untergebracht ist, stehen Teelichter auf dem Tisch und Bücher neben Boxhandschuhen, an den Wänden hängen Bilder. "Hier bin ich mit 19." Er zeigt auf eine Collage aus Schwarz-Weiß-Fotos. Er beim Militär und beim Karate-Training am Strand. "Hier mit 30" - ein Ölgemälde, das ein Freund angefertigt hat - "und hier mit 53" - ein Foto von ihm, knapp zwei Jahre alt, auf dem er mit weit hochgestrecktem Fuß gegen einen Trainingstorso tritt. Mit Eitelkeit hat diese Bilderschau nichts zu tun; sie soll den Jugendlichen imponieren. Mit 53 noch so gelenkig? Die Jugendlichen glaubten nicht daran, dass es bei ihnen später auch so sein könnte, sagt Weinert. "Ich sage ihnen, wenn du jetzt schon so einen Bauch hast, was glaubst du, wie du mit 40 aussiehst?"

Zwei Jungen in Sportkleidung klopfen, um ihm auf Wiedersehen zu sagen. "Jeder, der zu mir kommt, kommt zu mir nach Hause", sagt Weinert. Der 54-Jährige hat den Sporttreff aufgebaut, hat die Räumlichkeiten hergerichtet und verbringt dort monatlich bis zu 150 Stunden - unentgeltlich. Wer vorbeikommt, sagt Hallo und verabschiedet sich auch. "Und wenn es etwas zum Reden gibt, kommt er hier rein, wir machen die Tür zu und reden darüber." Das Vertrauensverhältnis, das sich dadurch aufbaut, werten die langjährigen Besucher des Treffs als eines seiner besonderen Merkmale.

Johann Thonhauser ist seit zwölf Jahren dabei. Mit jetzt 44 Jahren gehörte er zwar noch nie zur jugendlichen Klientel des Treffs. Mit ihr zu tun hat er aber genug: Er unterstützt Weinert als Hilfstrainer. In den vergangenen zwölf Jahren konnte er miterleben, wie das Edelweiß das Leben der jungen Geretsrieder prägte. "Er hat die Jungs zum Führerschein und zur Lehre gebracht. Ich erinnere mich noch, wie sie auf der Hantelbank saßen und gelernt haben", erzählt Thonhauser. Manche Schüler hat sich Weinert bis vor einigen Jahren noch auf dem Volksfest gesucht. Schon die Zwölfjährigen finde man da am Waldrand mit Alkohol in der Hand, und je tiefer man in den Wald eindringe, desto schlimmer werde es. "Ich habe die Schläger auseinandergezogen und ihnen klargemacht, dass sie sich fast die Nase gebrochen hätten", sagt Weinert. "Und die haben geantwortet: Er hat mich beleidigt, da wollten wir sehen, wer der Stärkere ist." Also habe er ihnen angeboten, ihre Kräfte im legalen Rahmen zu messen - einige von diesen Jugendlichen seien heute noch mit dabei. Im Schnitt kommen Besucher zwei Jahre lang mehrmals wöchentlich ins Edelweiß, ehe sich die Veränderungen, die das Training in ihnen bewirkt hat, bemerkbar machen. "Sie sind ruhiger und brauchen keine Schlägereien mehr, um sich etwas zu beweisen. Das merkt man schon an der Körperhaltung", sagt Weinert.

Einer seiner ersten Schüler war Eugen Polskoi. 1998 kam er mit seiner Familie aus Kasachstan nach Geretsried - zu diesem Zeitpunkt war er 14 Jahre alt. Polskoi lebte im Stadtteil Stein, der in dem üblen Ruf stand, ein heißes Pflaster, "ein Brennpunkt zu sein", an dem es jeden Tag krachte. "Das hat meiner Meinung nach nicht gestimmt", sagt Polskoi. In der Schule sei er eher ein Außenseiter gewesen, konnte nur schlecht Deutsch, fand keinen Anschluss. Mit 16 traf er Weinert, mit dem er auf dem Spielplatz und am Verkehrsübungsplatz am Robert-Schumann-Weg Boxen übte. Im Training wurde er zum Teil einer Gemeinschaft, sechs oder sieben Jungs waren sie, erinnert er sich, "alles Russlanddeutsche". Als dann später noch Deutsche und Türken dazustießen, habe er keine andere Wahl gehabt: "Da musste ich reden." So lernte er Deutsch.

Viele der Jugendlichen, die Weinert damals trainierte, besuchten an der Karl-Lederer-Mittelschule Parallelklassen; es bildeten sich Freundschaften. Mit der Zeit gewann der Verein an Ansehen: Edelweiß war ein Name, den die Jugendlichen kannten. "Wenn die Leute wussten, dass man im Edelweiß trainierte, dann war man ein Gewinnertyp." Heute ist Polskoi 29 Jahre alt. Die Box-Zeit hat ihn aufs Leben vorbereitet: Durch Weinert kam er zu seiner Chemikanten-Lehre bei Rudolf Chemie, dort ließ er sich auch zum Techniker weiterbilden. Als solcher fängt er jetzt bei BASF in Ludwigshafen an.

Die Freunde Leo Rieger und Hansi Huber, 29 und 28 Jahre alt, besuchen den Treff seit zehn Jahren. Sie sagen, Edelweiß habe ihnen dabei geholfen, Vorurteile abzubauen: Sie seien in Schalkofen aufgewachsen, auf dem Land. "Wir hatten Geschichten über Geretsried gehört, dass es da recht hart zur Sache geht", sagt Rieger. Heute sähen sie das anders. Die Mischung der Nationalitäten sei das Beste am Edelweiß, sagt Huber. Durch den Sport komme man sich näher, ganz ohne Wettbewerbsdruck. "Der Lehrer ist was Besonderes", sagt Rieger über Weinert. "Ich glaube nicht, dass es viele Menschen gibt, die für ein Danke so viel tun."

Waleri Weinert, Telefon 0170/307 91 99. E-Mail waleriweinert@web.de

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