Geretsried:Entstanden aus dem Nichts

Ein Film zeigt die Stadt der Vertriebenen zehn Jahre nach der Gründung - und wie hart die Geretsrieder für den Aufbau schufteten.

Von Felicitas Amler

Schwelgerische Musik, als wär's ein Winnetou-Film, die Kamera schwebt über eine grandiose Isar-Landschaft, ein äsendes Reh hebt den Blick, und schließlich die Stimme aus dem Off, die den Betrachter einführt in das Thema dieses 57 Jahre alten Streifens: Geretsried - "entstanden aus dem Nichts", aufgebaut auf Rüstungsbunkern von jenen fleißigen Menschen, die es aus Eger und Tachau, Breslau und dem Jeschkengebirge hierher verschlagen hat. "Zehn Jahre Geretsried" ist der Titel des Films, dessentwegen am Samstag viele ältere und ein paar jüngere Menschen aus der heutigen 25 000-Einwohner-Stadt ins Stadtmuseum strömten.

Das Kulturamt hatte zu diesem Kino-Nachmittag eingeladen, und was da angekündigt worden war, klang nach einer einmaligen Gelegenheit. Das freilich, so stellte sich an der Museumskasse heraus, war es nicht - denn der Film gehört zum Bestand des Hauses an der Graslitzer Straße, und Besucher können ihn dort jederzeit anschauen. Sei's drum, die Leute waren nun schon eigens gekommen, da entschied Museumsmitarbeiterin Johanna Hermann, zwischen die beiden angekündigten Vorführungen eine weitere einzuschieben. Ausverkauft waren alle drei sehr schnell, denn in dem kleinen Kinoraum haben mit gutem Willen zwanzig Personen Platz.

So warteten etwa die 83-jährige Anna Klier, Geretsriederin seit 1947, und die 72 Jahre alte Ingrid Görlich, die mit dem ersten Transport Heimatvertriebener am 7. April 1946 hier angekommen war, geduldig auf ihr Plätzchen vor der Leinwand. Das Stadtmuseum haben sie schon öfter besucht, den Film kannten sie aber noch nicht. So ging es auch dem 13-jährigen Bent Bäuml, der in Geretsried aufgewachsen und sehr an dessen Geschichte interessiert ist. In der Grund- und jetzt in der Realschule habe er einiges über den Zweiten Weltkrieg gelernt, sagte er, nun hoffe er auf einen "spannenden Film". Im Museum hat ihn beeindruckt, "mit wie wenig die Menschen hier angekommen sind". Und eben dies wird auch im Film deutlich.

"Zehn Jahre Geretsried" zeigt in 32 Minuten, welche Aufbauleistung die Heimatvertriebenen tatsächlich in sagenhaft kurzer Zeit erbracht haben. 1960 ist es gerade einmal 14 Jahre her, dass die ersten in den Baracken der früheren NS-Rüstungsbetriebe angekommen sind, und schon gibt es Produktionsstätten in imposanter Zahl und von großer wirtschaftlicher Bedeutung: Da werden Präzisionsdrehbänke hergestellt, Dynamos, Sessellifte, Blasinstrumente, Deckenträger, Holzspielzeug, Skistöcke, Schokolade, Sportbögen, Kolbenpumpen ... Über das Industriegleis ("Mit der Außenwelt ist Geretsried durch Autobus und Eisenbahn verbunden") werden Waren in Holzkisten transportiert, die mit Zieladressen in aller Welt bedruckt sind: Melbourne, Hongkong, Tokio.

Der Tonfall des Films ist von typischer Sechzigerjahre-Betulichkeit, aus heutiger Sicht gelegentlich zum Schmunzeln (über einen Damenwäsche-Betrieb: "Große Maschinen sind nötig, um das feine Material herzustellen, das von den Töchtern Evas zu duftigen Träumen genäht wird"), teils von verstörender Geschichtslosigkeit, etwa wenn die Heimatvertriebenen als "am schwersten von allen Deutschen geschlagen" bezeichnet werden. Die Bilder aber führen ein prägendes Kapitel Geretsrieder Geschichte vor Augen, und insofern lohnt sich ein Besuch im kleinen Kinoraum des Heimatmuseums allemal.

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