Gaißach:Die Buntheit akzeptieren

Gaißach: Martin Zeller, Geschäftsführer der Oberlandwerkstätten, bei seiner letzten Jahresbilanz. Der 65-Jährige geht in den Ruhestand.

Martin Zeller, Geschäftsführer der Oberlandwerkstätten, bei seiner letzten Jahresbilanz. Der 65-Jährige geht in den Ruhestand.

(Foto: Harry Wolfsbauer)

Martin Zeller, scheidender Geschäftsführer der Oberland-Werkstätten, mahnt Akzeptanz von Menschen mit Behinderung, Senioren und Asylbewerbern an

Von Klaus Schieder

GaißachMehr als 33 Jahre lang hat Martin Zeller als Geschäftsführer die Oberland-Werkstätten für Menschen mit Behinderung geführt. In den vergangenen zwei Monaten leitete er diese Einrichtung mit ihren Standorten in Gaißach, Geretsried, Polling und Miesbach bereits als Rentner, nun geht er mit 65 Jahren in den Ruhestand. "Das ist eine ganz normale Sache, die das Leben so mit sich bringt", sagte Zeller lapidar, ehe er zum letzten Mal die Jahresbilanz der Werkstätten präsentierte. Sein Nachfolger steht bereits fest: Der 42 Jahre alte Oliver Gosolits leitet vom 15. Juni an die Oberland-Werkstätten. Er stammt aus dem Landkreis Rosenheim und war zuletzt Geschäftsführer der Lebenshilfe Tirol.

Kurz vor seinem Ausscheiden äußerte der Geschäftsführer noch einen Wunsch: Die Gesellschaft möge die Teilhabe nicht bloß bei behinderten Menschen, sondern auch bei Senioren und bei Asylbewerbern hinbekommen. Sie solle "die Komplexität der Welt in ihrer Buntheit akzeptieren, und diese Buntheit als Chance empfinden und nicht als Bedrohung", sagte Zeller.

Zeller nutzte die Gelegenheit, um auf den Wandel im Umgang mit behinderten Menschen einzugehen. Nach dem Euthanasie-Programm der Nazis - der systematischen Ermordung von Behinderten - habe sich in der Nachkriegszeit zunächst der Gedanke der "Fürsorge" etabliert. Die Betroffenen blieben nicht mehr ihrer Familie oder einer Dorfgemeinschaft überlassen, stattdessen entstanden viele Sondereinrichtungen, die ihnen Schutz gewährleisten sollten. "Auch aus schlechtem Gewissen", wie Zeller sagte. Inzwischen seien solche Eigenwelten veraltet, die behinderten Menschen kaum ein Wahlmöglichkeit ließen. Der neue Leitidee heißt "Teilhabe", was Zeller wunderbar findet. Das sei stabilisierend für eine moderne, demokratische Gesellschaft, sagte er.

Für die Oberland-Werkstätten hatte dies unter anderem zur Folge, dass sich Mitarbeiter mit Behinderungen selbst um eine ausgeschriebene Stelle bewerben können, um sich dort auszuprobieren. Es besteht für sie auch die Möglichkeit, eine Assistenzausbildung zu absolvieren, um ihren Kollegen fachkundig etwa beim Mittagessen oder auf dem Gang zur Toilette zu helfen. Damit entlasten sie auch die Gruppenleiter und Fachkräfte, "sie sind einbezogen in die Aufgaben, die das Personal zu erledigen hat", erklärte der Geschäftsführer.

Auch der Werkstattrat hat eine andere Bedeutung als vormals. Diese Selbstvertretung der Werkstätten-Mitarbeiter hat den Elternrat abgelöst. Die Angehörigen spielten kaum noch eine Rolle im Arbeitsleben der Behinderten, sagte Zeller.

Ein Ziel sei es, die Teilhabe auch außerhalb des Unternehmens zu forcieren. "Im Sozialraum", wie der Geschäftsführer formulierte. Sei es in Vereinen, Kirchengemeinden oder durch ehrenamtliche Tätigkeiten. 584 Menschen mit Behinderungen arbeiteten voriges Jahr bei den Oberland-Werkstätten, 30 mehr als 2010. Davon waren 127 in Gaißach und 117 in Geretsried beschäftigt. 47 Männern und Frauen waren gruppenweise an Außenarbeitsplätzen tätig, zum Beispiel bei der Firma Roche in Penzberg, Industriebetrieben oder bei kommunalen Bauhöfen. 53 Mitarbeiter absolvierten vergangenes Jahr ein Betriebspraktikum - eine vergleichsweise hohe Zahl - seit 1999 gab es insgesamt nur 305 Praktika. Zwei schafften den Zugang zu einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, also den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt. "Das ist das Ideale", sagte Zeller. In eigenen Werkstatt-Gebäuden in Polling und Miesbach sind psychisch Erkrankte untergebracht, davon gab es 42 im Vorjahr. Der Altersdurchschnitt der Mitarbeiter mit Behinderungen liegt bei 40,5 Jahren. "Da wird deutlich, dass wir einiges tun müssen, was den demografischen Wandel angeht", sagte der Geschäftsführer.

Wirtschaftlich sind die Oberland-Werkstätten schon lange weniger eine Sozialeinrichtung als ein Unternehmen. Früher schickte eine Firma ein Einzelteil für ein Produkt, das dann hergestellt und zurückgesandt wurde. Heutzutage kaufen die Werkstätten das Material - etwa die 50 bis 60 Einzelteile, die für ein Kühlaggregat benötigt werden - selbst ein, fertigen sie, prüfen sie und versenden sie an den Auftraggeber. 2014 beliefen sich die Einnahmen aus den Produktionserlösen - ohne Materialwert - auf gut fünf Millionen Euro, rund 160 000 Euro mehr als im Jahr zuvor. Die Einkünfte aus Betreuungserlösen und Fahrtkosten-Erstattungen betrugen gut neun Millionen Euro, etwa 100 000 Euro mehr als 2013. Auf der Ausgabenseite schlagen die um 300 000 Euro gestiegenen Personalkosten mit knapp neun Millionen Euro zu Buche, der Sachaufwand mit gut einer Million. Wie Zeller ausführte, seien circa 2,5 Millionen Euro an Investitionen vorgesehen, davon 1,5 Millionen in die Sanierung von Gebäuden.

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