Chronik:Stadt der Puppenspieler

Seit 115 Jahren hat Bad Tölz ein Marionettentheater. Walter Frei hat die Geschichte in einer Chronik festgehalten. Das Publikum kommt noch immer gerne zu den Aufführungen.

Von Alexandra Vecchiato

Bad Tölz hat die Isar, den Kalvarienberg und die malerische Marktstraße. Man kennt den "Bullen" und die "Tölzer Prügel". Aber die Stadt hat auch ein Alleinstellungsmerkmal, das nicht in aller Munde ist: das Tölzer Marionettentheater, gegründet im Jahr 1900. Seiner Geschichte hat sich Walter Frei angenommen. Das Ergebnis ist eine 174 Seiten umfassende Chronik zu 115 Jahren Puppenspiel. An diesem Freitag wird die Chronik im Tölzer Marionettentheater vorgestellt.

Man könnte fast sagen, das Puppenspiel wurde Walter Frei in die Wiege gelegt. Der Tölzer hat 1956/57 als Oberschüler hinter der Bühne selbst an den Fäden gezogen, sein Vater war ebenfalls Laien-Puppenführer und sein Großonkel Rupert Spitzl sogar Theaterdirektor. Es war auch sein Vater Josef Frei, der die Festschrift zum 25-jährigen Bestehen des Hauses verfasste. Diese Dokumentation diente ihm neben den Theaterbüchern von Gründervater Georg Pacher als Quelle. Der 75-Jährige beleuchtet in Text und Bild die Jahre 1900 bis 1999. Über die Jahre 2000 bis 2015 berichten die Marionettentheater-Leiter Albert Maly-Motta und Karl Heinz Bille.

Tölzer Marionettentheater

Noch nach 115 Jahren Betrieb kommen die Marionetten beim Publikum gut an.

(Foto: Manfred Neubauer)

Es ist nicht das erste Buch aus der Feder von Walter Frei. Von ihm stammen etwa "Bad Tölz - Straßen, Plätze, Menschen" oder "100 Jahre Blomberghaus". Schon lange habe er Fotos und Dokumente zum Marionettentheater gesammelt, sagt er. Das Puppenspiel in Tölz reicht weit zurück. Quellen belegen, dass es im 16. Jahrhundert ein Laienspiel gegeben hat. Das Geschichtenerzählen mit Marionetten muss tief in der Bürgerschaft verwurzelt gewesen sein. Nur so ist es vielleicht zu erklären, dass die Tölzer an dieser Tradition festhielten. Um 1900 führten der Rechtsanwalt Franz Xaver Freiherr von Lobkowitz und der Apotheker Georg Pacher privat für geladene Gäste Puppenspiele auf. Pacher entpuppte sich im wahrsten Sinne des Wortes als genialer Marionetten-Macher, seine Paraderolle war der Kasperl. Am 1. August 1908 stellte ihm der Tölzer Magistrat den ersten Stock des "Salettl" im Bürgergarten als Theater zur Verfügung. Die erste offizielle Aufführung fand am 1. November 1908 statt. Nach 112 Vorstellungen endete der Spielbetrieb am 11. September 1912 im Salettl, weil der Raum für die vielen Besucher zu klein war. Es wurde umgebaut, ein Theater mit 80 Sitzplätzen entstand. Laut Pachers Aufzeichnungen fanden seit Eröffnung am 27. Mai 1913 bis zum 5. Oktober 1922 insgesamt 318 Vorstellungen in dem Haus im Bürgergarten statt.

Stürmische Zeiten kamen auf das Marionettentheater zu: In der Nacht vom 19. auf den 20. März 1952 brach der Boden des Theatergebäudes ein, unter dem ein Luftschutzstollen ausgehoben worden war. Wasser drang ein, das Haus versank, große Risse durchzogen die Mauern. Das Marionettentheater war nicht mehr zu retten. Andernorts hätte dies das Aus bedeutet, ist sich Maly-Motta sicher. Nicht so in Bad Tölz. Obschon in den Nachkriegsjahren das Geld für Projekte wie den Neubau eines Marionettentheaters knapp war, sammelten die Tölzer 4000 Mark. Am 5. September 1952 beschloss der Stadtrat den Neubau: das heutige Marionettentheater. Am 12. Juli 1953 fand die Einweihung statt.

Chronik: Theater-Gründer Georg Pacher gab seinen Marionetten noch Hände und Füße aus Blei.

Theater-Gründer Georg Pacher gab seinen Marionetten noch Hände und Füße aus Blei.

(Foto: Stadtarchiv Bad Tölz)

Mit 26 000 Euro fördert die Stadt Bad Tölz jährlich das Theater. Da das Haus ihr gehört, trägt sie auch die Baulast. Nächstes Jahr steht die Dachsanierung an. Die Theaterleiter sind dabei, den Dachboden auszuräumen. Unzählige alte Kulissen, 1000 Puppen und vieles mehr müssen in Kisten verpackt und ausgelagert werden. Ein schier ungeheurer Fundus und ein Vermächtnis jener, die vor Maly-Motta und Bille dieses Theater geleitet haben.

Wie das Marionettentheater, das im Laufe der Zeit einige Umbauten erfahren hat. Es sei ein Schmuckkästchen, betont Bille. Maly-Motta erinnert sich: Als er 2000 nach Bad Tölz gekommen sei, sei er unglücklich gewesen mit dem, was er vorgefunden habe. "Heute bin ich gott froh, dass ich nicht ans Marionettentheater in München gegangen bin", sagt er. Bad Tölz sei in seinen Augen das schönste Haus. In dem hat sich viel geändert: Bille und Maly-Motta sind keine Laienspieler, das Marionettenspiel ist ihr Beruf. Folglich müssen sie davon leben können. Um das zu gewährleisten, muss man dem Publikum etwas bieten: Unter ihrer Ägide wurde die Technik erneuert, eine neue Bestuhlung angeschafft - 102 Zuschauer finden Platz im Theater. 2014 eröffneten sie auch ein Planetarium im Gebäude. Das Theater steht für Feiern wie Hochzeiten offen.

Mit den Besucherzahlen sind beide zufrieden. Es kämen viele Münchner nach Bad Tölz. Auch aus Augsburg würden Zuschauer anreisen. Die beliebtesten Stücke seien nach wie vor der "Brandner Kaspar", "Die Zauberflöte" oder die "Heilige Nacht".

Die Frage, ob ein eigenes Theater für das Puppenspiel in heutiger Zeit eine Daseinsberechtigung habe, beantwortet Maly-Motta mit "selbstverständlich". Immer mehr Menschen würden nach dem "Selbstgemachten" suchen, sich vom "Maschinenwesen" abwenden. Deshalb sei es so wichtig zu zeigen, dass hinter der Bühne Menschen stünden. Nach den Vorstellungen dürfen die Zuschauer einen Blick hinter die Kulissen werfen. "Wir müssen die Sterilität des Tonbandes bekämpfen", sagt Maly-Motta. Der unmittelbare Kontakt sei ungemein wichtig.

Planetarium Tölzer Marionettentheater

Die heutigen Leiter Albert Maly-Motta (li.) und Karl Heinz Bille.

(Foto: Manfred Neubauer)

Wobei es das Publikum nicht zu stören scheint, dass sie etwa bei der "Zauberflöte" Musik und Gesprochenes vom Tonband hören. "Bei einer Opern-Aufführung ist das anders nicht möglich", betont Maly-Motta. Oft kämen Zuschauer hinter die Bühne und fragten, wo denn die Prinzessin sei, erzählt Bille. Und für die Spieler selbst bedeutet der Einsatz des Tonbandes mehr Präzision und Professionalität. Sonst bräuchte man auch das Doppelte an Personal, erklärt Maly-Motta. Für jede Puppe einen Sprecher und einen Spieler, das sei nicht machbar - finanziell und wegen der beengten Platzverhältnisse: Maximal acht Puppenführer könnten gleichzeitig arbeiten. Das Ensemble besteht derzeit aus elf Spielern. Bis diese lernten, die Marionetten zu führen, dauere es Jahre. "Es ist ein Problem: Wir haben kein festes Ensemble." Dennoch müsse die Qualität stimmen. Spaß mache es allemal im Team. "Die Stimmung muss stimmen", meint Bille. Und die sei im "kuscheligen" Theater sehr gut.

Walter Frei hofft auf reges Interesse. Die Feierstunde am Freitagabend sei eigentlich für geladene Gäste, erzählt er, aber er wünsche sich, dass viele Tölzer kämen, die sich für das Erbe ihrer Stadt interessieren. "Das ist uns recht", sagt Maly-Motta. "Der Wein wird schon reichen", meint Bille.

Vorstellung der Chronik "115 Jahre Tölzer Marionettentheater", Freitag, 23. September, 19.30 Uhr, Marionettentheater, Schlossplatz; die Chronik kostet 19,90 Euro und ist im Marionettentheater, in der Tourist Info und im Stadtmuseum erhältlich.

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