Berge:Wenn im Sommer die Alm ruft

Lerchkogel-Alm südlich von Fall

Sehnsuchtsort: Schon als Kind war Jakob Wasensteiner Hirte auf der Delpsalm im Vorkarwendel. Seitdem zieht es ihn immer wieder dorthin.

(Foto: Benjamin Engel)

Immer mehr Menschen verbringen den Sommer auf einer abgeschiedenen Alm. Nicht weil sie müssen, so wie früher - sondern weil sie es genießen.

Von Benjamin Engel

Die Gämsen sind Grenzgänger. Am Kamm von Prinzkopf und Stierjoch südlich von Fall wechseln sie am späten Vormittag von den südlichen Wiesenhängen in die steil abbrechenden Flanken der Luderwände im Norden - von der prallen Sonne in den kühlen Schatten. Gleichzeitig überqueren die an das gebirgige Gelände perfekt angepassten Tiere am Kamm in rund 1900 Metern Seehöhe die Grenze vom österreichischen Tirol nach Bayern.

Die Lenggrieser und Gaißacher Almbauern im Lerchkogel-Gebiet nehmen ihre Anwesenheit gelassen. Die Gämsen bewegen sich zwischen den rund 250 jungen Rindern, zehn Rössern und 30 Schafen im 970 Hektar großen Almgebiet ungestört.

Schon von Kindheit an kennt der 64-jährige Jakob Wasensteiner das Almgebiet östlich des Schafreuters. Er hat die Gämsen schon viele Male beobachten können. Doch jede Begegnung ist für ihn faszinierend. "Das ist ein Schmankerl", sagt er. Zum ersten Mal war er als kleiner Bub mit fünf Jahren auf der Alm bei seiner Tante. Die war am Lerchkogel-Hochleger lange Jahre Sennerin. Weil sie die Tiere molk, gab es immer Butter, Käse und Milch. Mehl war da, um selbst Brot zu backen. Andere Lebensmittel mussten mühsam mit Pferden heraufgeholt werden. Erst Mitte der 1960er Jahre konnten die Bauern der Gemeinschaftsalm den Weg bis zum Niederleger ausbauen.

Auf das Almgebiet um den Lerchkogel treiben fünf Bauern aus Lenggries und drei aus Gaißach im Sommer ihr Vieh. Zudem passen die Hirten auf die Tiere von zehn weiteren Besitzern aus dem Isarwinkel auf. Zu ihnen zählt auch Jakob Wasensteiner. Sich selbst sieht er nicht mehr als richtigen Landwirt. Er hat hauptberuflich für die Tölzer Stadtwerke gearbeitet. Sein vier Jahre älterer Bruder Georg hat den Hof der Familie in Lenggries übernommen. Jakob Wasensteiner züchtete nebenbei früher Schafe. Bis heute zieht er Kälber auf. Um die fünf sind während des Sommers auf der Alm.

Das Vieh ist von Juni an erst auf dem Lerchkogel-Niederleger in 1323 Metern Seehöhe. Im Juli geht es auf den Hochleger rund 200 Höhenmeter weiter oben. Das Jungvieh wird dann zur etwas westlich gelegenen Delpsalm getrieben. Anfang September treiben die Hirten das Vieh wieder zum Niederleger. Ende dieses Monats kehren die Tiere ins Tal zurück. Der Almsommer ist zu Ende.

Die Versorgung war eher dürftig

Erst elf Jahre alt war Jakob Wasensteiner, als er 1964 erstmals den Sommer nur mit dem älteren Bruder allein auf der Delpsalm verbrachte. Im Jahr darauf war der Zwölfjährige erstmals mit dem gleichaltrigen Georg Mair, auf der Alm. Der ist heute Vorsitzender des Almwirtschaftlichen Vereins Oberbayern. In den nächsten vier Jahren wiederholten sie das, immer von 1. Juli bis zum Schulanfang im September.

Gingen ihnen die Lebensmittel aus, mussten sie zur Tante auf dem Hochleger, um Nachschub zu holen. Wasensteiner kann sich an einige selbst zubereitete "magere" Kaiserschmarrn erinnern. Einmal fehlten die Eier, ein anderes Mal das Mehl. Oder es gab gerade keine Butter. Mehr als die Grundnahrungsmittel Käse, Butter, Milch und selbst gebackenes Brot hatte auch die Sennerin kaum.

Früher bekamen die Bauernkinder Sommerferien

Früher bekamen die Bauernkinder im Isarwinkel schon Ende Juni schulfrei, um auf der Alm zu helfen. Sie mussten mitanpacken. Außerdem waren so die Esser am heimischen Tisch im Tal weniger, erinnert sich Wasensteiner. Grund war eine Mischung aus dem Bedarf an Arbeitskräften und Nahrungsknappheit. Heute ist der 64-Jährige im Ruhestand als Hirte noch immer jeden Sommer etwa zwei Wochen auf der Delpsalm.

Was sich am meisten geändert habe, sei die Weite, sagt er. "Früher war die Versorgung nicht so gut. Du warst ganz weit weg vom Tal." Heute könnten die Bauern auf der Forststraße bis knapp unter den Hochleger fahren. Für das Vieh habe es keinerlei Zäune gegeben. Und zum Glück gebe es batteriebetriebene Radios. So wüssten die Hirten, wie sich das Wetter entwickle. "Früher bist Du schon einmal aufgestanden und draußen war es weiß", sagt Wasensteiner. Dann seien ein paar Zentimeter Schnee vor der Hütte gelegen.

Heute wechseln sich die Hirten auf den Hütten ab. Die Tölzer Hans und Sabine Glasl sind in ihrem vierten Jahr für jeweils vier Wochen auf der Delpsalm. Der 48-jährige Mitarbeiter der Tölzer Stadtwerke und seine 51-jährige Frau - sie arbeitet bei einem großen Konzern - passen auf die 100 Stück Jungvieh, acht Rösser und 30 Schafe auf der Alm auf. Dafür nehmen sie sich Urlaub.

Ihre Arbeitstage beginnen vor sieben Uhr morgens und enden früh. "Das Betthupferl auf Bayern 1 - es kommt um 19.55 Uhr - ist für uns das Signal, bald schlafen zu gehen", sagt Sabine Glasl. Nach dem Aufstehen seien sie täglich etwa vier bis fünf Stunden im Gelände unterwegs, ganz gleich, wie die Wetterbedingungen sind - ob es regnet, nebelig ist oder sogar schneit. Sie kontrollieren, ob der Weidezaun noch unter Strom steht und zählen das Vieh. Auf und ab geht es dann auf dem weitläufigen Almgelände östlich des Schafreuters und der beiden Delpsseen.

Innerhalb der winzigen Almhütte schrumpft das Leben zumindest räumlich zusammen. Gerade einmal für ein Stockbett, einen kleinen Tisch samt Stühlen, den Ofen und die mit Gas betriebenen Kochplatten ist Platz. Das Essen wird in einem Einlass unter dem Boden kaltgehalten. Wenn die Sonne scheint, generieren die Solarzellen am Dach zumindest genug Strom, um abends elektrisches Licht zu haben. Bleibt schönes Wetter aus oder regnet es den ganzen Tag, müssen Kerzen reichen.

Die nahe Quelle unterhalb der Baumgartenspitz spendet kaltes Gebirgswasser, das Hans Glasl in Kanister abfüllt. Und die beiden Hirten haben sogar zwei Hühner mit nach oben gebracht. So haben sie immer Eier. Für das große Geschäft müssen beide zu einem Plumpsklohäuschen etwa hundert Meter von der Hütte entfernt. Sabine Glasl wollte immer schon auf der Alm leben. Als Jägerin ist sie ohnehin viel draußen unterwegs. "Ich habe die Liebe zur Natur einfach so in mir drin", sagt sie. Ihren Mann musste sie zunächst überreden. Inzwischen kommt er gerne mit.

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