Begeisterung beim Publikum:Lebensweisheit in sechs Minuten

Beim ersten Wolfratshauser Poetry-Slam kommen kluge Gedanken und echte Gefühle zum Ausdruck.

Von Thekla Krausseneck, Wolfratshausen

Man möge es ihm nachsehen, beginnt Ingo Winter seinen Auftritt: Er habe es nicht so mit dem Reden vor vielen Menschen. Deshalb sei ihm geraten worden, sich die Leute einfach nackt vorzustellen. Er legt eine Kunstpause ein, schirmt die Augen mit der Hand gegen das Scheinwerferlicht ab und blickt in die Menge, die sich am Samstagabend zur Primetime um 20.15 Uhr im Wolfratshauser Sitzungssaal versammelt haben. Gelächter läuft durch die Zuschauer, die sich plötzlich ein wenig ausgezogen fühlen.

Ingo Winter zuckt mit den Achseln und setzt noch einen drauf: "Ist ein bisschen blöd als Grundschullehrer." Genauso gewitzt und treffsicher stürzt sich Winter in seinen Poetry-Slam, berichtet von seinem Alltag als Lehrer aka Fäkaltaucher - beides Berufe, die sich Gesprächspartner grundsätzlich nicht vorstellen könnten - und kommt dabei ins Nachdenkliche. Wenn er etwa streitende Schüler trenne, sage er nicht wie seine Kolleginnen, dass man "das nicht mache", sondern, dass man das "so nicht mache". Er nehme sie mit in die Sporthalle, zeige ihnen, wie man Schlägen ausweiche und seine Wut an einem Boxsack auslasse, und eine geballte Faust wieder öffne, um sich die Hand zu reichen. Danach folgt eine weitere Kunstpause. Diesmal schweigt das Publikum berührt.

Der Poetry-Slam ist eine Kunstform, die kaum Grenzen kennt: Ein Text kann lustig sein, nachdenklich, gereimt oder gerappt, er kann Herz- und Weltschmerz in sich tragen oder einfach nur ein persönliches Erlebnis abbilden. Ein Poetry-Slam-Text muss nur eine Voraussetzung erfüllen: Wer ihn vorträgt, muss ihn selbst geschrieben haben. Außerdem darf der Vortrag ein Zeitlimit nicht überschreiben - in Wolfratshausen sind das sechs Minuten. Die "Reimrausch"-Slammer Mic Mehler und Christoph Hebenstreit, Urheber und Moderatoren dieses erfolgreichen ersten Wolfratshauser Poetry Slams, müssen am Samstagabend niemanden unterbrechen. Alle Künstler entfalten ihre Gedankenwelten in der vorgegebenen Zeit. So entsteht eine dichte, packende Atmosphäre.

Fast alle Künstler werden von der sechsköpfigen Jury hoch eingestuft, kaum einer bekommt weniger als mindestens sieben von zehn Punkten - ein hochkarätiger Abend. Die drei Finalisten bleiben trotzdem unerreicht. Der Bonner Yannik Sellmann, blass, grauer Pulli mit nerdiger Aura, beherrscht die Bühne wie ein Profi-Komiker, erzählt temporeich von seiner Jugend als autistischer Außenseiter, den Differenzen mit seinen - Beleidigungen betreffend - unkreativen Mitschülern, und wie er Selbstvertrauen erlangte, als er auf den Philippinen Kinder zum Lachen bringen konnte, indem er mit bloßer Hand eine Zimmerdecke berührte. Antonia Lunemann aus Höhenkirchen dichtet über das Glück und Vorurteile gegenüber Montessori-Schülern und Behinderten mit Downsyndrom. Sie ist mit ganzem Herzen dabei. Im Finale, in dem auch Winter dabei ist, entscheidet das Publikum per Applaus über den Sieger. Weil es aber bei allen drei Finalisten völlig ausrastet, stampft, auf die Tische klopft, pfeift und jubelt, wählen Mehler und Hebenstreit den Gewinner aus. Lunemann erhält den ersten Preis, Sellmann und Winter den zweiten und dritten. Ein ansonsten perfekter Abend bekommt einen kleinen Kratzer. Sellmann oder Winter erreicht Lunemann noch nicht: Ihr Auftritt war berührend, aber auch ein wenig einfarbig. Für die Publikumswahl sollten Reimrausch eine andere Lösung finden.

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