Bad Tölz:"Gelebte Inklusion"

Neurokom-Patienten stellen Schlüsselwerke im Tölzer Kunstsalon aus

Von Petra Schneider, Bad Tölz

Wie fühlt sich das an, wenn plötzlich Teile des Gehirns durch einen Unfall, einen Schlaganfall, eine Hirnblutung zerstört werden? Wie ist das, wenn die Persönlichkeit wie ein Glas in tausend Scherben zerbricht und nichts mehr wird wie zuvor? Es ist ein "fürchterliches Ringen um eine neue Identität", das Neurokom-Gründer Eberhard Bahr bei seinen Rehabilitanden seit 20 Jahren erlebt und begleitet. Eine Möglichkeit, "die Katastrophe in der individuellen Identität" zu verarbeiten, ist die Kunst. Im Kunstsalon ist zurzeit eine Auswahl von Werken zu sehen, die in den Werkstätten der Neurokom entstanden.

Hirnverletzte können dort arbeiten oder sich kreativ mit unterschiedlichen Materialen beschäftigen. Manche malten wie besessen ganze Serien, erzählt Neurokom-Geschäftsführerin Silvia Ulze. Andere nur ein einziges Bild. Wie Richard Eck, der fünf Jahre an seinem kleinen Werk gearbeitet hat: Eine bunte Landschaft aus winzigen Pailletten, Perlen und zerschlagenen Kieselsteinen, mühevoll zusammengefügt mit der linken Hand. Seit 13 Jahren ist Eck halbseitig gelähmt, kann kaum mehr sprechen, schwer gehen und seine rechte Hand nicht mehr benutzen. Bevor ein Aneurysma Teile seines Gehirns zerstörte, war der promovierte Verfahrensingenieur ein hochkreativer Kopf und ein Arbeitstier. Die Krankheit hat sein früheres Leben zerstört.

Nerokom - Vernissage Kunstsalon ZEWE

"Elcome" statt "Welcome" steht auf dem Werk "Besetzt" von York Eppert.

(Foto: Manfred Neubauer)

Danach kamen die Wut und die Hilflosigkeit, die Scham und die Selbstzweifel. Seine Perlenlandschaft sei ein "Schlüsselwerk", sagt Bahr, der Ausdruck einer wieder gewonnenen Einheit. 20 solcher Schlüsselwerke sind in der Ausstellung zu sehen: Großformatige, dynamische und farbstarke Bilder des Kirchenmalermeisters York Eppert zum Beispiel, der nach einem Sturz von der Treppe ein Schädelhirntrauma erlitt. Oder die ausdrucksstarke Arbeit eines studierten Grafikdesigners, der ebenfalls nach einem Schädelhirntrauma ein Auge und damit die Fähigkeit zum räumlichen Sehen verlor: Ein mächtiger Baumstamm ragt aus einem grünen, teilweise zerstörten Haus und reckt sich zu den filigranen Blättern der nebenstehenden Bäume. Oder die detailgenauen Kopien von Blumen und Landschaften in Öl. Für Christian Poppel ist das exakte Abmalen eine Möglichkeit, dem Chaos im Kopf Herr zu werden und nach der Hirnverletzung Struktur und Halt zu finden. Wie in der Pubertät bilde das Gehirn nach einer Schädigung neue Vernetzungen, erklärt Ulze. Danach ist die Persönlichkeit nicht mehr so, wie sie vorher war - ein Umstand, der auch für die Angehörigen nicht einfach sei. "Es geht darum, das Eine loszulassen und zu begraben, um frei zu sein für die Bildung einer neuen Identität."

In der Arbeit "Besetzt" zeigt sich das beispielhaft: Ein Haus auf gemauertem Fundament, Spalten, verschiedene Ebenen aus Holz, Nischen und Gänge. Ein Alien steht auf einer Plattform, auf der Rückseite ein Schild mit "Elcome"- das W fehlt. Am Eingang dieses verwinkelten Hauses steht ein Sarg. Oft verwendeten Rehabilitanden Symbole wie den Sarg oder Redewendungen wie "Über den Jordan gehen", erklärt Ulze. Das habe nichts mit Suizidalität zu tun, wie das häufig in der Psychiatrie interpretiert werde. "Es ist ein Zeichen, dass die Trauerphase überwunden ist." Dass die Künstler ihre Werke im Kunstsalon, mitten in der Marktstraße ausstellen können, ist für Ulze "gelebte Inklusion". "Das gibt den Künstlern viel Selbstwertgefühl und erhöht das öffentliche Verständnis für die Probleme von Menschen, deren Leben mit einem Schlag zerstört wurde."

Nerokom - Vernissage Kunstsalon ZEWE

Neurokom-Gründer Eberhard Bahr bei der Vernissage im Kunstsalon.

(Foto: Manfred Neubauer)

Ausstellung "NeuroKunst", bis 29. November im Kunstsalon, Marktstraße 6, und im Neurokom, Buchener Straße. Geöffnet Fr. und Sa. 14 bis 18 Uhr, So. 15 bis 18 Uhr und nach Vereinbarung. Die Schau ist Teil der Festwochen bei Neurokom. Die Jubiläumsfeier ist am Freitag, 20. November.

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