Bad Tölz:Ankunft beim Matterhorn

Bad Tölz: Organist Jörg Ulrich Busch (l.) und Sprecher Hans-Hinrich Dölle.

Organist Jörg Ulrich Busch (l.) und Sprecher Hans-Hinrich Dölle.

(Foto: Harry Wolfsbauer)

Die Orgelfesttage klingen mit einem literarisch-musikalischen Abend aus der Schweiz aus

Von Reinhard Szyszka, Bad Tölz

"Jetzt sind wir beim Matterhorn angekommen." Sepp van Hüllen, Organisator der Tölzer Orgelfesttage, begrüßte mit diesen Worten die Besucher in der Stadtpfarrkirche Maria Himmelfahrt. Mit gutem Grund: Österreich und die Schweiz waren heuer das Thema der Orgelfesttage; Motto: "Vom Prater zum Matterhorn". Hatten sich die ersten beiden Konzerte noch ganz auf den Prater, also auf Österreich, konzentriert, und waren im dritten Konzert beide Alpenländer vertreten gewesen, so sollte am Donnerstag, im Abschlusskonzert, allein die Schweiz im Mittelpunkt stehen.

Jörg Ulrich Busch, Organist und Kantor am Fraumünster Zürich, war der Künstler des Abends, doch er war nicht allein gekommen. Mit ihm war Hans-Hinrich Dölle angereist, ein ausgewiesener Experte für den Schweizer Schriftsteller Robert Walser. Dölle lockerte das Konzert mit Walser-Lesungen auf. Er gestaltete die Prosatexte differenziert, ohne zu überzeichnen. Die verqueren Gedankengänge Walsers, die kafkaesken Absurditäten - nicht zufällig war Franz Kafka ein glühender Walser-Verehrer gewesen -, die endlos kreisenden Meditationen über gar nichts verlangen dem Leser und Hörer einiges an Geduld ab. Da gab es "den, der seinen Augen nicht traute" - offensichtlich Walser selbst - und einfach nicht glauben wollte, dass die Tür zu war, dass er einen Brief geschrieben hatte, dass da ein Glas Rotwein stand. Oder den, der eine Wurst gegessen hatte, und nun darüber sinnierte, dass die Wurst nicht mehr da war. Die Sprachspiele Walsers haben bei aller Kunstfertigkeit etwas Ermüdendes, und so war man meist froh, wenn die Orgel wieder einsetzte.

Die Konzeption des musikalischen Teils verriet in ihrem streng symmetrischen Aufbau die Handschrift von Hans-Jörg Albrecht, dem künstlerischen Leiter der Orgelfesttage. Albrecht stand auf der Empore neben dem Organisten und half ihm beim Registrieren und Umblättern.

Renaissance-Musik und Kompositionen aus dem 20. Jahrhundert wechselten einander ab. Jörg Ulrich Busch gefiel durch ruhiges, überlegenes Spiel und klare Gliederung. Die technischen Schwierigkeiten der neueren Werke bewältigte er mühelos, doch nahm er auch die Stücke aus dem 16. Jahrhundert absolut ernst.

Bei "Fugue et Choral" von Arthur Honegger überraschte die dichte, chromatische Setzweise; man hätte das Werk eher einem Reger-Schüler zugeschrieben als einem Mitglied der "Groupe des Six". Alfred Braun hingegen, ein wenig bekannter Zeitgenosse Honeggers, pflegte einen klaren, durchhörbaren Stil mit deutlicher Vorliebe für kanonische Stimmführung. Guy Bovet, ein auf die Orgel spezialisierter Komponist der Gegenwart, war mit zwei Werken vertreten, die sich beide durch mitreißenden, effektvollen Schwung auszeichneten.

Mittel- und Höhepunkt des Programms war die "Passacaille" von Frank Martin, ein überaus eindrucksvolles Werk, das dem Spieler erhebliche Virtuosität abverlangt. Busch lieferte eine packende Interpretation. Hier bewährte sich wieder einmal die Praxis der Tölzer Orgelfesttage, das Spiel des Organisten mit einer fest installierten Kamera auf eine Leinwand im Altarraum zu projizieren. Im letzten Teil des Werks schraubt sich das Passacaglien-Thema in Halbtonschritten allmählich nach oben, doch ist das Thema selbst schon derartig chromatisch und komplex, dass nur ein Zuhörer mit absolutem Gehör diese kompositorische Feinheit klar heraushören könnte. In Tölz aber schaut man dem Organisten quasi auf die Füße, und so konnte man direkt beobachten, wie Busch das Thema im Pedal von Mal zu Mal einen Halbton höher ansetzte. Die Kamera ist also nicht nur eine technische Spielerei, sondern sie erleichtert die Wahrnehmung der musikalischen Strukturen erheblich.

Alles in allem zeigte das Konzert eindrucksvoll, dass auch die Schweiz vielfältige Orgelmusik zu bieten hat. Es ließ sich aber auch nicht übersehen, dass da in der Mitte ein gewaltiges Loch klafft. Vom 16. ging es direkt ins 20. Jahrhundert, und die Zeit dazwischen - Barock, Klassik, Romantik - war nicht im Programm vertreten. Das kann nur bedeuten, dass es aus diesen Epochen keine qualitativ hochwertigen Orgelwerke aus der Schweiz gibt. Ob es mit der reformierten Kirche zusammenhängt, bei der die Musik eine untergeordnete Rolle spielt? Jedenfalls fanden die Schweizer Komponisten auf dem Gebiet der Orgelmusik erst nach 1900 wieder den Anschluss an die musikalische Entwicklung.

Das Konzept der Tölzer Orgelfesttage, länderspezifische Programme zu gestalten, wird auch im kommenden Jahr beibehalten. Tschechien und Ungarn werden die Länder sein, und die Reise wird "von der Moldau an die Donau" führen. Freilich nicht auf dem kürzesten Weg, denn wie sagte schon Robert Walser? "Nicht auf der geraden Straße, sondern auf Umwegen findet man das Leben."

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