Amtsgericht Wolfratshausen:Gutachter auf der Anklagebank

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Ein Radfahrer verunglückt, ein Autofahrer wird zunächst verurteilt. In der Berufung gerät jedoch der Sachverständige unter Verdacht, falsch ausgesagt zu haben. Jetzt muss er sich selbst in einem Prozess verantworten - und sein Richter wird als Zeuge vernommen

Von Wolfgang Schäl, Wolfratshausen

Eine solche Konstellation erlebt man unter Justitias verbundenen Augen nicht alle Tage: Ein Gerichtsgutachter auf der Anklagebank und ein Amtsrichter, der just in dem Saal, in dem er normalerweise seine Urteile spricht, in den Zeugenstand gebeten und von einem Amtskollegen vernommen wird.

Genau dies aber ist die Szenerie, die sich derzeit im Wolfratshauser Amtsgericht abspielt - eine Verhandlung, die ganz nebenbei auch Einblicke ins Gerichtswesen gewährt, grundsätzliche juristische Fragen aufwirft und auf beachtliche vier Verhandlungstage festgesetzt ist. Verantworten muss sich Diplom-Ingenieur Andreas F. (Name geändert), dem uneidliche Falschaussage vorgeworfen wird und der nicht nur strafrechtliche Folgen, sondern auch und vor allem eine Beschädigung seiner beruflichen Reputation befürchten muss.

Der Fall geht zurück auf einen Verkehrsunfall, der sich 2015 in der Gemeinde Kochel am See ereignet hat. Damals war ein Radfahrer beinahe mit dem Jeep eines 85-jährigen Autofahrers kollidiert, der nach links abbiegen wollte. Um einen Zusammenprall zu vermeiden, bremste der Radler so scharf, dass er über den Lenker geschleudert wurde und sich beide Arme brach. Der Autofahrer wurde in erster Instanz von Amtsrichter Helmut Berger zu einer Geldstrafe verurteilt, wogegen er Berufung einlegte. Das Münchner Landgericht stellte dann das Verfahren ein, der erwähnte Verkehrssachverständige indes geriet unter den Verdacht, er habe wissentlich falsche Aussagen gemacht.

Amtsrichter Berger wird am kommenden Dienstag als Beteiligter des Verfahrens, das vertretungsweise sein Amtskollege Urs Wäckerlin führt, zu einer Aussage erwartet. In der jetzigen Verhandlung ging es um die grundsätzliche Frage der Vermeidbarkeit des Unfalls, also darum, ob der Radler mit seinem Bremsmanöver womöglich überreagiert und sich seine Verletzungen folglich selber zuzuschreiben hat.

Um die Hintergründe zu schildern, verlas der Anwalt des Angeklagten, Siegfried Spatzl, eine juristisch ausgefeilte, fast zweistündige Erklärung, in der er unter anderem darlegte, dass sein Mandant nicht ausreichend über die Art seines Auftrags aufgeklärt worden sei. Er habe sich in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht deshalb überwiegend auf mündliche Zeugenaussagen berufen, die aber in sich völlig widersprüchlich und nicht im Einklang mit den Ermittlungen der Polizei gewesen seien. Hätten in deren Protokoll zunächst kaum greifbare Aussagen gestanden, so seien sie vor Gericht plötzlich mit sehr genauen Angaben über den Unfall aufgetreten. "Vor der Polizei konnten die sich an nichts erinnern, und vor Gericht haben sie dann plötzlich ihre halbe Lebensgeschichte erzählt." Er müsse sich fragen, wie sich jemand nach so langer Zeit plötzlich wieder an so viele Details erinnern könne. Eine Spurensicherung am Unfallort und auch eine Untersuchung des Fahrrads habe es nicht gegeben, und auch was die "Endlage" des verletzten Radlers betrifft, so F., habe er keinerlei verlässliche Aussage gehabt. Er habe sich deshalb "sehr zum Leidwesen von Herrn Berger" um die Zeugen bemüht. Der Richter selbst habe keine Fragen an die Zeugen gehabt. Nicht einmal die Staatsanwaltschaft habe den Eindruck erweckt, als sei sie an dem Verfahren besonders interessiert. "Da gab es nichts, kein Nachhaken, keine einzige Plausibiltätsfrage." Als höchst "ausgesprochen befremdlich" empfand es der Angeklagte schließlich, wie Berger den betagten Autofahrer vernommen habe. "Er hat ihn behandelt wie ein fünfjähriges Kind", kritisierte Andreas F. den Amtsrichter.

Er frage sich bei alledem, wieso und für was er jetzt vor Gericht stehe, der Vorwurf der Staatsanwaltschaft ist aus seiner Sicht "völlig haltlos". Schon allein aufgrund seiner beruflichen Qualifikation - er halte selbst Vorträge bei Staatsanwaltschaften in ganz Deutschland, sei Referent "in fast jeder Polizeiakademie" und habe sogar ein eigenes, dreidimensionales Unfallaufnahme-Tool entwickelt.

Dass er als Sachverständiger offenbar nicht gut gelitten sei, hängt nach seiner Vermutung damit zusammen, dass er gelegentlich auch Privatgutachten erstelle. Dies aber werde an den Gerichten grundsätzlich nicht gern gesehen.

Frostig ist die Stimmung nun auch zwischen Andreas F. und dem aktuell zuständigen Staatsanwalt. F. beklagt dessen "invasiven Fragestil", was den Vertreter der Anklage indes nicht anfocht: "Ich mache das so, wie ich es für richtig halte. Das werden Sie auch weiterhin erleben." Der Prozess wird kommende Woche fortgesetzt.

© SZ vom 07.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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