Obdachlosigkeit:Wohnen an der Grenze der Menschenwürde

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Jedem ein Zuhause: Die Bahnhofsmissionen haben im Hauptbahnhof mit einer Installation gezeigt, wie inhuman ein Leben auf der Straße ist. (Foto: Catherina Hess)
  • Die Bahnhofsmissionen haben mit einer betont schlichten Möbelinstallation mitten im betriebsamen Hauptbahnhof aufs Grundrecht des Wohnens hingewiesen.
  • Rund 9000 Menschen haben in München keine Wohnung - unter ihnen sind 1600 Kinder.
  • Einer der Gründe ist, dass es zu wenig einfachen, aber bezahlbaren Wohnraum gibt.

Von Tom Soyer

Die Münchner Bahnhofsmission kann lustige Geschichten erzählen, etwa von der Fledermaus, die mal bei ihnen abgegeben wurde, oder von einer Chinesin, der ihre Gitarre auf der weiteren Reise hinderlich war. Aber sie ist auch ein mahnender Seismograf für die soziale Lage in der Stadt. Denn dort strandet häufig, wer kein Obdach findet. Und das passiert immer häufiger.

Die evangelische und die katholische Bahnhofsmission, die sich längst als eine einzige ökumenische Einrichtung verstehen, haben am Samstag mit einer betont schlichten Möbelinstallation mitten im betriebsamen Hauptbahnhof aufs Grundrecht des Wohnens hingewiesen. Und verknüpfen einen dringenden Appell an die Politik damit: Mehr billiger Wohnraum muss her in München.

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Wie dramatisch die Lage ist am unteren Ende der sozialen Skala, lässt sich an den Wohnungslosen-Zahlen in München ablesen. Im Jahr 2007 waren das noch 2534 Menschen laut städtischem Armutsbericht, bis Februar 2018 stieg das kontinuierlich auf nun 9022 akut Wonungslose an. "Das macht klar, wie massiv die Wohnungsnot angestiegen ist", sagt Gordon Bürk, der Geschäftsführer des Evangelischen Hilfswerks München, das auch Träger der evangelischen Bahnhofsmission ist. Die Bahnhofsmission ist in diesem Gefüge die letzte Anlaufstelle.

Im Winter bekommt jeder einen Schlafplatz, weil es das Kälteschutzprogramm gibt, mit Reserven. Aber wenn dieses städtische Programm jetzt wieder endet, müssen sich Wohnungslose "prekär durchschlagen", wie Bettina Spahn als Leiterin der katholischen Bahnhofsmission weiß. Betroffen seien auch "viele Menschen im Niedriglohnsektor", die sich mit ihren niedrigen Einkommen eine reguläre Miete auf dem teuren Münchner Markt nicht mehr leisten könnten. Arbeit zieht alle an - Arbeit kümmert sich aber nicht ums Wohnen.

Warum weite ein Industrieriese wie BMW sein Unternehmen in München aus, ohne gleich Werkswohnungen zu bauen, fragt Gordon Bürk. Die neuen, gut bezahlten Kräfte, schafften es auf dem Mietmarkt. Aber sie verdrängten andere, etwa in den unterbezahlten Sozialberufen, Alleinerziehende mit Kindern, Menschen mit Krankheiten oder psychischen Problemen. Für die werde München immer gnadenloser.

Keine Chance auf dem freien Wohnungsmarkt

Verglichen beispielsweise mit der Stadt Wien sogar besonders gnadenlos. In München seien von den rund 790 000 Wohneinheiten nur 71 000 in Händen der Stadt, und wiederum nur 43 000 davon unterlägen der Sozialbindung, stünden also für sozial Schwächere bereit. Die bekannte Folge: Wer sozialwohnungsberechtigt ist, wartet "zehn Monate bis zehn Jahre", um auch eine zu bekommen - und hat auf dem freien Markt bei Quadratmetermieten von 18 bis 20 Euro keine Chance.

Anders in Wien: Dort gehörten der Stadt 60 Prozent des Mietwohnungsbestandes, und drei Viertel davon unterlägen sogar noch einer besonderen Mietpreiskontrolle. Bürk leitet von dem Vergleich ganz klar ab: "Es braucht ganz klare Programme, um den sozialen Wohnungsmarkt zu verbessern." Damit meint er eine wirkliche, engagierte Aufholjagd, bei der Bund, Land und Kommunen in den Ballungsräumen zusammenwirken, bei der auch beispielsweise München und die Umlandgemeinden enger zusammenwirken müssten.

Barbara Igl als Vorsitzende des katholischen Bahnhofsmissions-Trägervereins "In Via" (ein Fachverband der Caritas) pflichtet ihm ebenso bei wie Gabriele Stark-Angermeier, Vorstand der Caritas-Sozialdienste in der Erzdiözese - und erst recht die beiden Leiterinnen der Hauptbahnhof-Missionen, Bettina Spahn (katholisch) und Barbara Thoma (evangelisch). "Wohnen im öffentlichen Raum, an der Grenze der Menschenwürde", ohne Privatsphäre, das verdeutlichen sie mit ihrer Installation - und wollen ein bisschen nachfühlbar machen, wie es jenen 9000 Wohnungslosen in München geht, ohne Toilette, irgendwo. Mehr als 1600 dieser Betroffenen seien Kinder, ergänzen Spahn und Thoma, was die Lage noch akuter mache.

Der einfache Wohnraum fehlt

Ihre Mission, wo es Tee und Schmalzbrot (übrigens auch dank Spenden des SZ-Adventskalenders), aber auch einen Aufenthaltsraum und Isomatten gibt, sei oft die "letzte Anlaufstation". Und zugleich Vorposten vieler Behörden, mit denen sie eng kooperierten. 290 Kontakte, 66 intensivere Beratungen verzeichnen sie pro Tag mit ihren 14 haupt- und knapp 200 ehrenamtlichen Mitarbeitern, aber nicht allen könne geholfen werden.

Insbesondere werde es immer schwieriger, Obdachlosigkeit zu vermeiden, das spüren und kritisieren sie. Es fehle an Notwohnraum - und es fehle an bezahlbarem, einfachem Wohnraum auf dem freien Markt, damit Menschen aus Not- und Sozialwohnungen "aufrücken" und Kapazitäten freigeben könnten für einen Bedarf, der dramatisch wächst.

© SZ vom 23.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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