Obdachloser unter der Wittelsbacherbrücke:Philosophie gegen Pfandflaschen

Obdachloser Bernd unter der Wittelsbacher Brücke

Den ersten Winter unter der Wittelsbacherbrücke hat Bernd, 63, überlebt. Jetzt steht der nächste an. "Ich will doch einfach nur mal zu mir finden", sagt er.

(Foto: Florian Peljak)

Seit dem Tod seiner Freundin lebt Bernd in München unter der Brücke. Er liest viel - und will auch im Winter draußen bleiben. Über ein Leben in Zitaten.

Von Elisa Britzelmeier

Wenn Bernd an der Isar ist, fühlt er sich näher bei seiner toten Freundin, sagt er. Mit ihr war er oft hier. Sie hat es ihm nahe gebracht und er zugleich ihr: draußen am Fluss sein, Leute anquatschen, Flaschen sammeln. "Eine sehr Niedliche, Zierliche war sie", sagt Bernd, 63. Ihren Namen verrät er nicht, genauso wenig wie seinen eigenen Nachnamen.

Irgendwann war seine Freundin tot, sie hatte etwas mit dem Herzen. Und er musste aus der Wohnung raus, denn die lief auf sie, und er konnte die Miete nicht bezahlen.

Bernd ist inzwischen viel an der Isar. Wittelsbacherbrücke. Fast immer.

Die Brücke ragt in vier weiten Bögen über die Isar, zwei davon bewohnt der Fluss, zwei bewohnen Bernd und seine Nachbarn. Auf der Brücke thront eine Statue, Otto I. auf seinem Pferd. Unter der Brücke, von Bernds Matratze aus, hört man die Autos rauschen, den Fluss hört man nicht. Die Isar fließt klar vorbei. Im Sommer schauen die Münchner beim Fließen zu, trinken ein Bier auf den Stufen, hängen die Füße ins Wasser. Dann ist die Wiese voll mit jungen Frauen im Bikini und Typen mit Sonnenbrillen. Im Winter joggen höchstens ein paar wenige vorbei. Dann sind Bernd und seine Nachbarn die einzigen, die hier noch liegen.

Mehr als ein Jahr wohnt Bernd nun schon unter der Brücke, den vergangenen Winter hat er hier verbracht, diesen Winter will er es auch schaffen, an Weihnachten möchte er wieder einen Christbaum aufstellen. Vor kurzem hat die Uefa "the famous Wittelsbacherbrücke bridge" zum neuen Wahrzeichen Münchens erhoben und in das Logo für die Fußball-EM 2020 gepackt. Nicht den Marienplatz, nicht die Frauenkirche. Ja mei, denkt der Münchner. Bernd würde nicht "ja mei" sagen. Bernd ist in der DDR aufgewachsen, das hört man ihm auch an. 1978 ist er in den Westen. Die Bundesrepublik habe ihn freigekauft damals, sagt er. Wie das kam? "Das ist Geschichte. Kann man überall nachlesen." Wie es in seinem Fall genau ging, erzählt er nicht.

Zwei Mütter spazieren vorbei, das eine Baby liegt im Wagen, das andere baumelt vor der Brust, eine Mütze mit Bärchenohren auf dem Kopf. "Guck mal, wie süß", sagt Bernd, er sagt es auch ein bisschen zu den Müttern. Sie grüßen und laufen weiter.

Wer bei Bernd vorbeikommt, hat meist zu wenig Zeit. Bernd hat immer mehr. "Ich bin gerade in der Entschleunigungsphase", sagt er. Er sagt tatsächlich "Entschleunigung", als wäre er Yogalehrer oder Ratgeber-Autor. Bernd, wache, farblose Augen unter buschigen Brauen, Zahnlücke, trägt einen Anorak, wie er in den Achtzigerjahren modern war, und die langen, graubraunen Haare zu einem Zopf gebunden.

Er sieht nicht unbedingt aus wie ein Yogalehrer oder Ratgeber-Autor, aber er hält für jeden, der ihm zuhören mag, mehr Weisheiten bereit als alle Yogalehrer und Ratgeber zusammen. "Zitat", sagt Bernd, und dann kommt schon das Zitat: "Wer Zuhören versteht, hört die Wahrheit heraus. Wer nicht hören will, hört nur Lärm." Oder, ein anderes Beispiel: "Wer zuhört, ist dem anderen nicht nur sympathisch, am Ende hat er meistens was hinzugelernt."

"Keiner ist weiser, der nicht das Dunkel kennt"

Bernd sammelt Aphorismen wie Pfandflaschen, und manchmal tauscht er auch. Er fragt die Menschen an der Isar nach ihrer leeren Bierflasche, im Sommer, wenn was los ist, und gibt ihnen dafür ein Stück Philosophie. Nicht bei allen Zitaten weiß er den Autor, manche leitet er mit dem Spruch ein: "ein Schriftsteller sagte". Bei anderen ist die Zuordnung klar: Goethe, Epikur, Konfuzius, Wolf Biermann.

Bernd geht es um das Wesentliche. Dahin will er vorstoßen. "Ich will doch einfach nur mal zu mir finden, nachdenken über mich und die Welt", sagt er. Es ist, als kreise er um eine leere Mitte. Wonach er sucht, weiß er wohl selbst nicht genau, vielleicht merkt er es erst, wenn er es gefunden hat. Wenn man ihn darauf anspricht, antwortet er mit einem Zitat: "Keiner ist weiser, der nicht das Dunkel kennt."

Vor seiner Matratze steht auf Bierkisten eine Zimmerpflanze, neben seiner Matratze stapeln sich drei ausgeblichene Zeitungen und mehrere Bücher, eines über den Sendlinger Aufstand: "Lieber bayerisch sterben. Der bayerische Volksaufstand 1705 und 1706", eines für Eltern: "Schlafen statt schreien: das liebevolle Einschlafbuch". So viel wie früher liest er heute nicht mehr. Aber immer noch mehr als die meisten Leute, "die lesen einfach viel zu wenig."

Bevor Bernd unter die Wittelsbacher zog, wohnte er in einem Männerwohnheim in der Nähe. Frühstück 1,20 Euro, Mittagessen 2,30 Euro, Abendessen 1,80 Euro, Übernachtung im Doppelzimmer 5 Euro.

Bernd will bleiben - auch den Winter über

Hier wurde Bernd nach langer Krankheit wieder gesund, aber dann hat er es nicht mehr ausgehalten "mit den Insassen da", wie er sagt. Früh um sieben wurde er geweckt, sagt er, wie will man da ordentlich Flaschen sammeln? Das beste Geschäft macht man im Sommer schließlich am Abend. Also zur Wittelsbacher. Seit dem Zweiten Weltkrieg leben dort Obdachlose, heißt es, für die meisten Münchner damit schon immer.

Immer wieder stellten sie dort Möbel auf und bauten sogar Holzverschläge, immer wieder wurde geräumt, mal wegen Hochwassers, mal zur Isar-Renaturierung, mal, weil "Verslumung im Landschaftsschutzgebiet" nicht toleriert werden könne, wie es das Kreisverwaltungsreferat 1993 nannte. 600 Menschen leben heute in München auf der Straße, schätzt man beim Evangelischen Hilfswerk. Für alle gebe es im Winter Schlafplätze, aber nicht alle wollen.

Die Blätter im Herbst sind eine einzige Plage, sagt Bernd. Neben seinem Schlafplatz lehnt ein Besen, eben hat er damit noch den Asphalt gekehrt. Vor den Matratzen von Bernd und seinen Nachbarn verläuft der Radweg, ein weißer Strich trennt ihn vom Fußgängerweg. Bernd achtet darauf, dass weder seine Nachbarn noch irgendein Passant auf der falschen Seite stehen bleibt, notfalls zerrt er am Jackenärmel. Ein Mähfahrzeug fährt vorbei, städtisches Sicherheitsorange, ein Gitter für das Laub vorne dran. Der Fahrer grüßt, Bernd grüßt zurück. "Dem habe ich schon nahegelegt, dass er hier nicht so durchrasen kann, das ist ja schließlich ein Wohnbereich. Hat er eingesehen."

Bernd sagt, wenn er wieder eine Frau fände, könnte er sein Leben neu gestalten. Wenn ihm eine gefällt, nennt er sie zur Begrüßung "Prinzessin". Obwohl er sonst ganz gern allein ist und seine Ruhe hat, würde er gern zurück Richtung Nordosten ziehen, mit der entsprechenden Frau. Den Vorschlag macht er recht früh, wenn er eine kennenlernt.

Ein Hund trottet vorbei, graubraun, struppig und alt, er läuft immer zwei Schritte hinter seinem Frauchen. So wie es aussieht, ist der Hund zu langsam für die Frau.

Bernd will auch wieder arbeiten. Vorausgesetzt, sein Knie macht mit. Angefangen hat alles mit der Krankheit, damals war es eine Entzündung in den Zehen. Er hatte alles mögliche gearbeitet, war Elektromontierer, fuhr Leute mit seinem Auto nachts durch die Stadt. Wie ein Taxifahrer, aber kein offizieller, "wie heute halt Uber", sagt Bernd. Dann wurde er krank. Irgendwann konnte er nicht mehr richtig gehen und blieb zu Hause. Igelte sich ein in seiner Wohnung, die er damals noch hatte, und las.

Wittelsbacherbrücke in München, 2016

Die Wittelsbacherbrücke über die Isar verbindet die Isarvorstadt mit der Au und Untergiesing.

(Foto: Stephan Rumpf)

Dann kam die Klage. Mietrückstand. Er musste raus aus seiner Wohnung. Bald kam er bei seiner neuen Freundin unter, kennengelernt hatte er sie in der Bahnhofsmission. "Sie fiel ja auf durch ihre Hübschheit." Jetzt kämpft er darum, seinen Nachlass wiederzubekommen: 25 Kisten mit Erinnerungen, Dokumenten und Fotos. Die hatte er bei der Nachbarin im Keller untergestellt - und als die aus der Wohnung musste, verschwand alles, sagt Bernd.

Mit den Nachbarn unter der Brücke kommt Bernd gut aus, sagt er. Heute hat er Semmeln mitgebracht und streckt ihnen eine große, geöffnete Bäckertüte entgegen. Es ist ein guter Tag. Dass da neben ihm andere Leute wohnen, macht Bernd heute nichts aus. Vielleicht genießt er sogar die Gesellschaft. Manchmal ist das anders. Dann geht er rüber und sagt ihnen, dass sie weniger Lärm machen sollen, obwohl es da eigentlich nicht viel zu gehen gibt, sie trennen nur zwei Meter, drei Regenschirme, ein paar Pfandflaschen und eine Schutzwand aus einer Sperrholzplatte und Polstern, die niemand mehr haben wollte.

Bernd kann schlecht nachdenken, wenn Susanna und Alexander, die Nachbarn, so laut sind. Also wird er selbst laut, danach tut es ihm dann leid und er schenkt Susanna ein Mon cheri. Den Nachbarn auf der anderen Seite hat er einen Papierkorb besorgt, in den sie ihren Abfall werfen sollen.

Abends, wenn nur ab und an ein Fahrradlicht das Dunkel unter der Brücke durchschneidet, brennen drei schwache Kerzen in Laternen, im Brückenbogen nebenan liest ein Mann mit Stirnlampe. Es sind nur wenige Schritte, dann ist man oben, auf der Brücke, ein paar Schritte weiter, und da sind die Häuser, in denen Wohnungen sind, unerreicht für Bernd, für Susanna und Alexander, für ihre Nachbarn.

Die Suche nach dem Wesentlichen

Sechs Grad, zeigt die Wetter-App an. Nachts werden es drei. Wieso bleibt Bernd draußen, auch wenn es Winter wird? Seit Anfang November läuft wieder das Kälteschutzprogramm der Stadt. Einmal hat Bernd das schon ausprobiert, hat in der Bayernkaserne im Norden der Stadt geschlafen, gleich neben der Flüchtlingsunterkunft. "Aber da drin bist du mit der Bürokratie verheiratet", sagt er. "Da bin ich lieber hier und friere." Bernd will an seinem Platz bleiben, während alles an ihm vorüberzieht, die Isar, die Radler, die Autos, hoffentlich auch der Winter.

Eines von Bernds Lieblingszitaten ist von Stefan Zweig. Es lautet: "Der Sinn des Lebens ist mehr als das Leben selbst." Vielleicht steckt dahinter eine Sehnsucht, in der sich Bernd und manche der Menschen oben in ihren Wohnungen ziemlich nah sind.

Bernd ist auf der Suche nach dem Wesentlichen. Und dabei bleibt er lieber ungestört.

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