Wirtshäuser:Giesinger Stüberl

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Die Bierdeckel schön in der Tischmitte - so schaut's aus im Maibaumstüberl, einem der Schauplätze in Johannes Boos' Film "Hinter Milchglas und Gardinen". (Foto: Johannes Boos)

Die klassische Boazn ist ein vom Aussterben bedrohtes Biotop. Johannes Boos hat ihr einen Film gewidmet

Von Hubert Grundner, Giesing

Man kann von der Rückkehr der Sechziger nach Giesing halten, was man will. Eines aber lässt sich nicht leugnen: Der einen oder anderen Boazn im Dunstkreis des Grünwalder Stadions beschert der Fußball zumindest an jedem zweiten Spieltag zusätzliches Geschäft. Und für diese Sonderkonjunktur dürfte so mancher Wirt auch dankbar sein, gehören doch viele Boazn und Stüberl einer vom Aussterben bedrohten Unterart der Gastronomie an. Zu diesem Schluss kommt Johannes Boos, der ein Jahr lang die letzten noch existierenden Biotope dieser ganz speziellen Kneipenkultur filmisch erkundete. Den Anstoß zu dem Projekt lieferte dem 39-Jährigen ein persönliches Erlebnis: Das Stüberl in seinem Wohnblock an der Perlacher Straße hatte dichtgemacht. Und so beschloss Boos, von Beruf Pressesprecher eines Münchner Unternehmens, diese Refugien mehr oder weniger durstiger Menschen einmal auszuleuchten. "Hinter Milchglas und Gardinen" ist der Titel des Streifens, der dabei entstand. Nebenbei ist er auch zur "Abschlussarbeit" geworden für den Blog "giesinggalore", den Boos bis in den Sommer dieses Jahres unterhalten hatte. Jedenfalls wirft Boos einen Blick von außen und innen auf nicht ganz 30 Boazn, die es in Unter- und Obergiesing noch gibt, spricht mit Wirten und Gästen.

Und die sind ganz anders, als Johannes Boos erwartet hat: Überraschend leicht sei es ihm gelungen, mit den Menschen vor und hinter dem Tresen ins Gespräch zu kommen. Haupterkenntnis Nummer eins: Das Klischee von der Boazn als Hort von Kampftrinkern und Abgestürzten ist falsch. Haupterkenntnis Nummer zwei: Die Boazn erfüllt eine wichtige soziale Funktion als Ort der Kommunikation und gelebter Nachbarschaftshilfe. Da findet die Oma von nebenan oft ganz problemlos einen Gast, der ihr den Einkauf die Treppen hochträgt, in der Wohnung eine Glühbirne austauscht oder eine kleinere Reparatur erledigt. Boos hat Boazn als "Umschlagplatz für Gefälligkeiten" kennengelernt, für die nicht großartig bezahlt werden muss, abgesehen vielleicht von ein, zwei spendierten Bieren. Und so hat jede Boazn ihr eigenes Publikum, ihren eigenen Charme, ihre eigene Qualität - "etwas, das man auf den ersten Blick vielleicht nicht erkennt", sagt Johannes Boos.

Umso hilfreicher könnte bei der Erforschung dieses Phänomens der analytische Blick des Wissenschaftlers sein. Tatsächlich kommt im Film der Soziologe Thomas Krämer-Badoni zu Wort. Er ist Mitautor des Buches "Die Kneipe. Zur Soziologie einer Kulturform", eines Standardwerkes zum Thema. Der notwendige Sachverstand, um sich auch zu Münchner Boazn zu äußern, durfte somit als gegeben vorausgesetzt werden. Boos hat den Soziologen extra in Bremen besucht, um ihn zu befragen. Dabei sind Boos die Gründe, warum die Boazn allmählich verschwinden, durchaus selbst bekannt: Unter anderem bleiben die Rentner aus, die früher oft schon vor- und nachmittags die Stüberl besuchten. Entweder, weil sie aus der Nachbarschaft verschwinden, Stichwort Gentrifizierung, oder es am Geld mangelt. Die steigenden Mieten wiederum machen es den Wirten schwer, mit ihrer Mini-Kneipe den Lebensunterhalt zu verdienen.

Verschärft wurde ihre Situation, glaubt Boos, durch das Rauchverbot: Seitdem die Gäste zum Qualmen vor die Tür müssen, häufen sich die Beschwerden von Anwohnern bei den Vermietern beziehungsweise die Anrufe bei der Polizei. In der Folge wirft der eine Wirt entnervt hin, dem anderen kündigt der Hauseigentümer.

Was aber macht die Boazn zu einer Boazn? Neben mehreren anderen Aspekten hat Johannes Boos zur Beantwortung dieser Frage das absolute Killer-Argument parat: "Eine Boazn darf keinesfalls den Eindruck erwecken, hip sein zu wollen."

© SZ vom 16.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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