Wiesn: Unterwegs mit einem Taxifahrer:Rausch und rein

Sind sie zu beneiden, die Oktoberfest-Taxler? Na ja, es geht so. Denn wer Taxi fährt, braucht starke Nerven. Eine Fahrt mit Reinhold Siegel durch die Münchner Nacht.

Tobias Dorfer

Es gab eine Zeit, da war der Taxifahrer Reinhold Siegel fast jeden Tag auf dem Oktoberfest. Damals, Mitte der neunziger Jahre hat er zwölf von 16 Wiesn-Tagen mitgenommen. Und heute? "Landhausfasching", sagt er. Betrunkene. Amerikanische Rentnerinnen, die es gar nicht erwarten können, aus dem Auto zu kommen, dabei fallen, mit einer Platzwunde auf dem Boden liegen, obwohl Siegel doch die Ausstiegshilfe holen wollte. Und dann ist wieder er, der Taxifahrer, schuld. "Die Wiesngäste im Taxi haben mir das Oktoberfest verleidet."

Wiesn: Unterwegs mit einem Taxifahrer: Reinhold Siegel vor der Esso-Tankstelle in der Münchner Ungererstraße. Hier treffen sich die Taxifahrer zum nächtlichen Gedankenaustausch.

Reinhold Siegel vor der Esso-Tankstelle in der Münchner Ungererstraße. Hier treffen sich die Taxifahrer zum nächtlichen Gedankenaustausch.

(Foto: Tobias Dorfer)

Mit ihnen geht es nicht. Aber ohne sie erst recht nicht. Das Geschäft der Taxifahrer boomt in München in diesen Tagen. Die 3400 Taxis, die in der Landeshauptstadt fahren dürfen, sind in diesen Tagen wohl alle unterwegs. Doppelschicht. Und doch: Wer am Rand der Wiesn-Sperrzone eines der begehrten Autos ergattert, hat Glück gehabt.

Reinhold Siegel fährt seit mehr als 20 Jahren Taxi. Seine Verbindungen zur Außenwelt sind ein UKW-Funkgerät, ein Handy und ein silberner Kasten. Es ist Dienstagabend und Siegel lässt den Friedensengel hinter sich, überquert die Luitpoldbrücke und fährt die Münchner Prinzregentenstraße herunter. Um ihn herum ändert die Stadt langsam ihren Aggregatszustand. Aus der Arbeitsstadt wird die Feiermetropole. Wer noch vor Minuten Finanztransaktionen kontrolliert, Häuser gereinigt oder Autos verkauft hat, schunkelt nun zu Sierra Madre im Festzelt.

Es ist 18:21. Der silberne Kasten piept. Reinhold Siegel nimmt den Auftrag an, dreht das Auto am Haus der Kunst und fährt zurück. Isar, Friedensengel, hinein in den Nobelstadtteil Bogenhausen, wo die Stiftungen ihren Sitz haben, die Private-Equity-Firmen und Anwaltskanzleien.

18:29 Uhr, Bogenhausen - Schwanthalerstraße (Oktoberfest)

Sieben Menschen steigen ein, in voller Oktoberfest-Montur. Sie arbeiten bei einer dieser Finanzfirmen. Im Hippodrom-Festzelt warten auf sie etwa 100 weitere Kollegen. Eigens für den Abend sind Mitarbeiter aus der britischen Dependance eingeflogen. Ein Geschäftstermin? "Arbeit Schrägstrich Oktoberfest", sagt ein Engländer und lacht. In der Mitte lehnt sich eine Dame in Blond nach vorne, sie hat den Ausflug organisiert und zuvor an die Kollegen die Texte der wichtigsten Wiesn-Hits geschickt. Die meisten haben den Zettel vergessen, aber wen kümmert's?

14,70 Euro kostet die Fahrt. Die Finanzleute zahlen 16 Euro und ziehen weiter. 2,90 Euro Grundgebühr verlangen die Münchner Taxifahrer, hinzu kommt eine Kilometerpauschale, die sich - je nach Länge der Strecke - zwischen 1,60 Euro und 1,25 Euro bewegt. Umwege fahren lohnt sich dafür nicht, sagt Siegel, auch wenn dies den Fahrern häufig unterstellt werde.

18:57 Uhr, Schwanthalerstraße - Volkartstraße

Ute und Erich Forster haben sich nach Feierabend auf der Wiesn getroffen und beim Schichtl ein Hendl gegessen. Jetzt wollen sie nach Hause - mit dem Taxi. Vor der U-Bahn habe sie eine Traube von Menschen gesehen, erzählt Ute Forster. Das sei eine Zumutung. Dann doch lieber Taxi. "Kostet auch nicht viel mehr als eine Maß auf der Wiesn."

Reinhold Siegel fährt los. Mittlerer Ring, Donnersbergerbrücke, Landshuter Allee, immer weiter nach Norden. Draußen ist es längst dunkel. Die Finanzleute aus Bogenhausen dürften jetzt im Hippodrom stehen und die Texte der Wiesn-Lieder vom Spickzettel ablesen. Sieben Mal waren sie bereits in diesem Jahr auf der Wiesn, erzählt Frau Forster. Besuch aus England.

Nicht weit von der Volkartstraße, dem Ziel des Ehepaars, hat Reinold Siegel damals, vor mehr als 20 Jahren, ein Schild gesehen, das sein Leben verändern sollte. Taxifahrer gesucht, stand da. Der gelernte Landschaftsgärtner hat angerufen, fuhr fortan Taxi, und ein Jahr später, mit 22 Jahren, hatte er sein erstes eigenes Taxi. Einen Mercedes 123, Baujahr 1979, für 7000 Mark. Am Ende hatte der 650.000 Kilometer drauf. Unkaputtbar, sagt Reinhold Siegel.

19:48 Uhr, Hauptbahnhof - Grasbrunn

Am Münchner Hauptbahnhof stehen die Taxis in vier Reihen. Reinhold Siegel wird ein- und gleich wieder ausgewunken. Er fährt das einzige Großraumtaxi und jetzt steht da eine Gruppe Manager aus dem Raum Mannheim, die nach Grasbrunn wollen, 31 Kilometer entfernt. Sie sind wegen einer Präsentation hier. Es geht um Leittechnik. Die Manager interessieren sich weniger für das Oktoberfest, als vielmehr für das Navigationsgerät des Taxis. Dessen Pfeil bewegt sich gerade auf einer grünen Wiese vorwärts.

Sie sind nicht gerade gesprächig, die Fahrgäste aus Mannheim. Häufig ist das anders. Dann wird das Taxi zum Kummerkasten oder Beichtstuhl. Doch wenn der Fahrgast aussteigt, dann steigen die Dramen mit aus. "Früher habe ich das Leid der Welt wie ein Schwamm auf mich gezogen", sagt Siegel. Heute sei das anders. Vor einiger Zeit ist eine Frau bei ihm eingestiegen, am Kurfürstenplatz. Schauen Sie, mit dieser Tram hätte ich fahren können, hat sie gesagt. Nun sei sie aber ins Taxi eingestiegen, weil sie jemanden zum Reden brauchte. Siegel hat die Geschichte schnell wieder vergessen.

21:27 Uhr, Schwanthalerstraße - Leuchtenbergring

Zwei zusätzliche Taxistreifen hat die Stadt München am Oktoberfest-Eingang eingerichtet, aber einen hat sie inzwischen schon wieder kassiert. Jetzt steht eine Polizistin am Straßenrand und passt auf, dass dort auch kein Taxi hält. Reinhold Siegel wird rechts überholt. Ein anderer Fahrer drängelt sich vor ihm in die Schlange, aber das bringt bei diesem Andrang höchstens 20 Sekunden. Es steigt ein: ein junger Mann aus Hannover. Solarbranche, dort für die Logistik zuständig. Er hat den Abend auf dem Oktoberfest ausklingen lassen, aber alleine war es auch irgendwie langweilig. Immerhin - vom Bierpreis sei er "positiv überrascht". In Augsburg habe er einmal zwölf Euro für eine Maß gezahlt. Allerdings war da noch Likör drin.

Reinhold Siegel lässt das Maximilianeum links liegen. Der Fahrgast plaudert von einem Taxi-Erlebnis in Polen. Einmal habe er sich von Warschau nach Hannover fahren lassen, weil in Polen der Flughafen wegen Nebels gesperrt war. 860 Kilometer für 530 Euro. "Wie ein König habe ich mich da gefühlt", erzählt der Logistiker. Und in Deutschland? Da hätte die Strecke 1200 Euro gekostet, sagt Reinhold Siegel.

22:24 Uhr: Esso-Tankstelle Ungererstraße 54

Es ist kurz vor halb elf, als Reinhold Siegel die Esso-Tankstelle in der Ungererstraße ansteuert - und sofort steht ein Lächeln in seinem Gesicht. "Ah, der Joghurt-Heinz ist auch da." Siegel erkennt das Auto des Kollegen sofort. Hier trifft sich eine eingeschworene Taxi-Clique, die Tankstelle ist quasi ihr zweites Wohnzimmer.

Der Joghurt-Heinz sitzt auf einem Barhocker, vor sich hat er einen leeren Obstgarten stehen und ein Früchtemüsli. Jetzt knabbert er an einem Brötchen und trinkt Milch aus dem Tetrapak. "Ich bin ein Freund von Milchspeisen", sagt der Joghurt-Heinz. Er ist 71 Jahre alt, Rentner, und müsste nicht mehr Taxi fahren. Dennoch steigt er Nacht für Nacht ins Auto. "Ich bin Junggeselle", sagt er - und holt sich noch einen Obstgarten. Die Nacht ist noch lang.

23:16 Uhr, Hauptbahnhof - Lothstraße

"Andere Leute gehen in die Kneipe, ich geh Taxi fahren", sagt ein Fahrer zu Reinhold Siegel, der sich inzwischen wieder in die Schlange am Hauptbahnhof eingereiht hat. Der letzte Fahrgast für heute bewegt sich auf das Auto zu. Morhaf, 25, war in Augsburg, seinem Vater das Auto zurückbringen. Jetzt sitzt der Lehramtsstudent auf der Rückbank des Taxis. "Sie waren doch kürzlich in einer Reportage auf Vox zu sehen", sagt er zu Reinhold Siegel. Der Fahrer, dekoriert mit Schnauzbart, Trachtenjacke und einer barocken Statur, nickt und lacht. Er liebt seinen Job. "Ich hab Sie sofort erkannt, Sie haben eben ein Charaktergesicht", sagt Morhaf.

Die Wiesnbesucher taumeln durch die Straßen, in der Bayerstraße versperrt ein Krankenwagen die Fahrbahn, das Blaulicht dreht sich. Taxis schlängeln durch die Straßen, zwischen ihnen kurven Rikschafahrer, aber die sind kaum zu sehen, so schwach ist das Licht an ihren Fahrrädern. Betrunkene in Lederhosen und Trachtenhemden torkeln über die Gehwege. An einer Fußgängerampel hält ein Polizist einen jungen Mann davon ab, bei Rot über die Straße zu gehen. Hier müsse man höllisch aufpassen, dass einem kein Betrunkener vors Auto läuft, sagt Siegel. "Da springen Leute im schwarzen Pulli bei Rot über die Straße - und keiner sieht sie."

Als Reinhold Siegel zuletzt in Urlaub gefahren ist, war er mit seiner Familie im Schweizer Skiort Zermatt. Dort sind die Straßen seit 1931 für Autos gesperrt. Reinhold Siegel hat sein Auto im Örtchen Täsch abgestellt, einem Dorf im Wallis, sechs Kilometer entfernt. Die restliche Strecke ist er mit dem Elektrotaxi gefahren.

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