Wie Bewährungshelfer Verurteilten helfen:Strampeln gegen den Sog nach unten

Sie sind verurteilt wegen Drogen, Körperverletzung oder illegalen Waffenbesitzes - bislang nur auf Bewährung, doch bei einem weiteren Fehltritt würden sie direkt im Gefängnis landen. Für Bewährungshelfer ist das ein harter Kampf gegen den Sog nach unten.

Ronen Steinke

Es ist ein Leben auf der Kippe, jederzeit droht der Absturz. 3344 Menschen in München leben so. Das Urteil über sie ist gesprochen, der Weg ins Gefängnis bereits aufgemalt, aber der Richter hat andererseits auch Positives in ihnen gesehen - so viel, dass sie womöglich aus eigener Kraft schaffen könnten, was Betonwände und Eisengitter oft ohnehin nur dürftig und vorübergehend schaffen: einen klaren Strich zu ziehen unter eine kriminelle Vergangenheit.

Etwa 20 Sicherungsverwahrte bis 2020 in MV

Nicht jeder, der eine Straftat begeht, muss deshalb auch ins Gefängnis: Alleine in München sind derzeit 3344 Menschen zur Bewährung auf freiem Fuß.

(Foto: dpa)

Wer eine Chance zur Bewährung bekommt, der muss vor allem mit sich selber kämpfen", sagt die 58-jährige Helga Nowy. Die Bewährungshelferin soll dabei helfen. Sie kennt den Sog nach unten - die Sucht, die alten Gewohnheiten, und inzwischen, nach 33 Jahren im Dienst, kennt sie auch ihr eigenes Bedürfnis nach Abstand; zum Ausgleich singt sie Chansons auf Münchner Kleinkunstbühnen, Edith Piaf auf bairisch. Wen sie aber immer weniger kennt, das sind die Menschen, die sie vor dem Kippen bewahren soll. Fünfzig waren es, als Helga Nowy anfing. Heute sind es 111, in derselben Arbeitszeit. Wie viel Zeit bleibt da für jeden - an einem durchschnittlichen Arbeitstag Anfang Dezember zum Beispiel?

Der erste Proband, der morgens in das Büro von Helga Nowy kommt, ist ein 37 Jahre alter gelernter Kfz-Mechaniker. Ein großer Mann mit weichem Bubengesicht und ohne Eile. Frau Nowy begrüßt ihn, beugt sich nach vorne, schlägt einen leisen, warmen Gesprächston an. "Ihnen geht's nicht gut." Nein, dem Kfz-Mechaniker geht es nicht gut, gerade hatte er sich mit aller Kraft herausgezogen aus der Heroin- und Kokainsucht, war auf Alkohol umgestiegen. Es ist noch nicht lange her, da wurde er im Supermarkt mit einer Flasche Wodka unter dem Pullover erwischt, schon im Laden hatte er die Hälfte geleert. Drei Monate auf Bewährung lautete das Urteil, der Kfz-Mechaniker hatte 19 Vorstrafen. Auch vom Alkohol konnte er sich danach aus eigener Kraft loseisen - dank eines neuen Jobs, der das Leben strukturierte. Doch jetzt hat er die Arbeit wegen Auftragsmangels verloren.

Und so verschwimmen die Tage wieder. Das Gespräch mit der Bewährungshelferin bleibt einseitig. Der Mann antwortet ausweichend, die vielen einzelnen Sätze ergeben am Ende nur eine einzige zusammenhängende Erzählung: Der alljährliche Familienstreit zu Weihnachten, davor graust es ihm jetzt.

Ein Fehltritt würde sofort ins Gefängnis führen

"Sie sind ein gestandenes Mannsbild", ruft Helga Nowy, um den 37-Jährigen aufzurichten. "Sie sind Herr Ihres eigenen Schicksals!" Und: "Außerdem sind Sie Bayer und deshalb kennen Sie viele Lebensweisheiten." Der Kfz-Mechaniker lächelt müde. Eine Viertelstunde lang unterhält man sich so, abschließend tippt der Mann den nächsten Termin mit Frau Nowy in sein Handy. In vier Wochen wieder.

Wie Bewährungshelfer Verurteilten helfen: Helga Nowy ist eine von 36 Bewährungshelfern in München - und alleine verantwortlich für 111 Probanden. Früher waren es halb so viele.

Helga Nowy ist eine von 36 Bewährungshelfern in München - und alleine verantwortlich für 111 Probanden. Früher waren es halb so viele.

(Foto: Stephan Rumpf)

Der nächste Proband, ein hoch gewachsener 32-Jähriger, lacht nervös. Er spielt an seinem Piercing herum, hat die Beine übereinander geschlagen, ein Turnschuh zappelt unaufhörlich in der Luft. Über seinem Kopf schweben derzeit drei Bewährungsstrafen gleichzeitig. Das bedeutet: Ein einziger Fehltritt würde sofort mit mehreren Jahren Gefängnis zu Buche schlagen. Wegen Drogen und illegalen Waffenbesitzes. "Und?", fragt Helga Nowy zur Begrüßung.

Man ist im Handumdrehen wieder in einem Gespräch, das man vor einem Monat unterbrochen hatte. Es geht um Sport. Der Gepiercte kommt vom Dorf, in München kennt er fast niemanden, deshalb findet Frau Nowy, er brauche ein Hobby. Zum Joggen ist er aber noch nicht gekommen. "Das ist mein Neujahrsvorsatz", sagt der 32-Jährige und bricht in ein Lachen aus, die Augen suchen nach Zustimmung.

Frau Nowy sagt: "Dann brauchen wir nicht mehr weiterreden. Sie müssen jetzt von der Sprech- in die Handlungsphase übergehen." In vier Wochen sieht man sich wieder. Vier Wochen können lang sein. In den vergangenen vier Wochen hat der Gepiercte einen Rückfall in die Drogen erlitten und sich alleine um seine Therapie gekümmert.

So geht das auch beim nächsten Probanden, einem höflichen Mann aus Sibirien, und auch beim darauffolgenden, einem Heroinsüchtigen, der zehn seiner 32 Lebensjahre hinter Gittern verbracht hat. Man unterhält sich. Frau Nowy informiert sich. So geht das über Stunden.

Die Schlange der Menschen, die von jedem Münchner Bewährungshelfer betreut werden müssen, ist heute zwar doppelt so lang wie noch vor dreißig Jahren. Die Beamten lassen sich von dem gestiegenen Andrang aber nicht zu doppelter Hektik treiben. Stattdessen laden sie die Straftäter heute deutlich seltener zum Beratungsgespräch als früher. Aus einem Wochenrhythmus wird auf diese Weise ein Monatsrhythmus, aus einem losen Kontakt ein noch loserer.

An diesem Tag ist neben den zahlreichen Männern nur eine einzige Frau in das Büro von Helga Nowy geladen - und nicht aufgetaucht. Was dann passiert? "Dann schreibe ich ihr einen Brief mit einem neuen Termin", sagt die Bewährungshelferin. "Wenn sie wieder nicht kommt, schreibe ich noch mal einen Brief mit einem neuen Termin. Wenn sie dann wieder nicht kommt, schreibe ich noch mal einen Brief mit einem neuen Termin. Danach teile ich das dem Gericht mit." Das Gericht, so ist dort zu erfahren, schreibt in der Regel einen weiteren Brief. Nur wenn der Proband den Kampf mit sich selbst verliert und bei einer weiteren Straftat erwischt wird, greift die Justiz sofort zu - und entscheidet über eine Vollstreckung der Freiheitsstrafe.

"Wo ist denn die Urinkontrolle, die Sie mir versprochen haben?", fragt Frau Nowy einen 28 Jahre alten Altenpfleger, der am späten Nachmittag vorbei kommt. Unter seiner weißen Wollmütze sind gerade schön verwuschelte blonde Haare aufgetaucht, es dauert nicht lang, bis die hellblauen Augen zu leuchten beginnen. Der Krankenpfleger saß auf mehreren Kilo Marihuana, als sein Cabrio in eine Fahrzeugkontrolle geriet. Zweieinhalb Jahre Gefängnis gab es dafür. Nur ein Jahr musste er absitzen - unter der Bedingung, dass er regelmäßig zur Urinkontrolle geht. "Hab ich vergessen", sagt der Blonde lächelnd. "Sorry. Der Stress."

Welcher Stress, will Frau Nowy wissen. "Der Krankheitsstress. Ich habe einen richtigen Schleier vorm Gesicht. Wie, wenn ich gekifft hätte! Habe ich aber natürlich nicht." Er lacht. "Beweise?!", fragt Frau Nowy.

Keine Illusionen

Die Bewährungshelferin schreibt dem 28-jährigen einen Erinnerungszettel, beim nächsten Termin soll er den Nachweis über die Urinkontrolle nachreichen, und der junge Mann sagt: "Da bedanke ich mich recht herzlich." Helga Nowy macht sich keine Illusionen. "Die Probanden können mir viel erzählen." Was einer draußen wirklich treibe, sei unmöglich zu erraten, man könne nur hoffen, ein bisschen stabilisierend zu wirken.

"Super läuft es, wirklich super", sagt der letzter Besucher an diesem Tag, abends um sechs. Der 34-Jährige trägt eine randlose Brille und begrüßt seine Bewährungshelferin in aller Form und Höflichkeit. In dem Großmarkt, in dem er jetzt arbeitet, sei der Wein-Umsatz in ganz neue Höhen gestiegen, berichtet er, die Geschäfte brummten, der Chef sei hochzufrieden. "Wenn ein Kunde mich nach Rat fragt, dann sage ich: Dieser Wein ist acht Monate im Barriquefass gelagert, weitere sechs Monate in Edelstahl, man kann ihn noch drei Jahre zu Hause aufbewahren. Ein hervorragender Tropfen!" Der 34-Jährige macht ein schmatzendes Kussgeräusch, lehnt sich zurück und senkt verschwörerisch die Lider. "Ob das stimmt? Keine Ahnung."

Helga Nowy blickt streng. "Das könnte man ja fast schon wieder für Betrug halten", sagt sie. Der Mann mit der randlosen Brille hatte in München über Jahre Handyfirmen und Banken geprellt; als ein Mitgefangener in seiner Zelle einen Schwächeanfall erlitt, stahl er ihm die Armbanduhr. Sicher, sagt der Mann, als Frau Nowy weiter drängt, er selbst als Kunde würde sich auch ärgern, wenn sich der hervorragende Tropfen zu Hause als billiger Ladenhüterwein entpuppt.

Dass in den wenigen verbleibenden Minuten ein Gespräch zustande käme, kann man dann nur schlecht behaupten, der Proband wünscht zum Abschluss noch lange und wiederholt schöne Feiertage, einen guten Rutsch, besinnliche Weihnachten, nochmals einen guten Rutsch und schenkt Frau Nowy zum Abschied ein Parfumpröbchen von Jil Sander, wie man es manchmal als Werbegeschenk bekommt.

In vier Wochen sieht man sich wieder. Es sei denn, er kippt.

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