Westend:Lücken im kollektiven Gedächtnis

Flüchtlinge Westend

Lang ist's her: Ein Filmteam des BR begleitete 1974 die Feier zur Eröffnung des Griechischen Hauses an der Bergmannstraße.

(Foto: Archiv Griechisches Haus/oh)

"Migration bewegt die Stadt" heißt ein Kooperationsprojekt von Stadtarchiv und Stadtmuseum: Es will der Geschichte und den Geschichten der Zuwanderer endlich den ihnen gebührenden Platz einräumen

Von Lea Frehse, Westend

Die Stadt München schreibt ihre Geschichte um - zumindest ein bisschen. Das mag wunderlich klingen, schließlich sind Behörden keine Drehbuchschreiber, die einen Plot nach Belieben umdichten können. Doch letztlich funktioniert das kollektive Gedächtnis einer Stadt kaum anders, als die Erinnerungen einer Familie: Was nicht im Familienalbum klebt oder in Tagebüchern ruht, geht mit der Zeit verloren. Album und Chronik der Stadt sind ihr Archiv und ihr Museum. Und die machen sich nun daran, eine wichtige Erinnerungslücke zu schließen: die Geschichte ihrer Zuwanderer.

"Migration soll Teil der Stadtgeschichte werden", sagt Philip Zölls, Archivar am Stadtarchiv und Mitarbeiter des Kooperationsprojekts "Migration bewegt die Stadt" von Archiv und Stadtmuseum. Deshalb begannen Zölls und sein Team vor zwei Jahren all das zu sammeln, was Ämter hüten wie Großeltern vergilbte Jugendfotos: Berge von Akten, darunter das Archiv der Ausländerbehörde und des Flüchtlingsrates. Bis dahin waren solche Zeugnisse der Einwanderung im Gedächtnis der Stadt schlicht nicht verzeichnet gewesen. Noch aber fehlt den Archivaren, was Zahlen und Amtsbriefe erst lebendig macht: persönliche Erinnerungen. Bloß wie kommt eine an Aktenzeichen und Register gewöhnte Behörde an Anekdoten und Bilder bewegten Alltags?

Zölls' Team hat Menschen aus dem Münchner Westend eingeladen, ihre Geschichten zu erzählen. Das Viertel nahe dem Hauptbahnhof wurde schon im 19. Jahrhundert Zuhause für Zuwanderer erst aus dem ländlichen Bayern, seit den Sechzigerjahren aus Südeuropa und dem Balkan. Mit seinen Fabriken, Mietshäusern, griechischen Straßenfesten ist das Westend und seine Bewohner stets Referenzpunkt, wenn in München das Gespräch auf "Einwanderung" kommt. Nur: So einfach geben Menschen ihre Geschichten nicht preis. Als Zölls und Kolleginnen im vergangenen Frühjahr an zwei Nachmittagen Anwohner aus dem Westend einluden, Erzählungen und Erinnerungsstücke abzugeben, kam niemand. "Das lief nicht gut", räumt Philip Zölls ein, "hat uns aber etwas ganz Wichtiges gezeigt: Wer Geschichten erfahren will, muss zuerst Vertrauen aufbauen". Schließlich gebe niemand gern Briefe, Fotos, Andenken ab - noch dazu an städtische Stellen, die das Westend lange Zeit als "Problemviertel" abgestempelt hatten.

Zölls' Team hat daraus gelernt und inzwischen Menschen wie Constantinos Gianacacos und Simon Goeke ins Boot geholt. Gianacacos leitet das Evangelische Migrationszentrum im Griechischen Haus, seit Mitte der Siebzigerjahre ein wichtiger Anlaufpunkt für Menschen mit Migrationsgeschichte. Gianacacos, Jahrgang 1956, ist seit 1974 im Viertel. Für Goeke, 35, ist das Westend Wahlheimat. 15 Jahre hat er hier gelebt, seine Doktorarbeit als Historiker über politische Bewegungen der Arbeiterschaft im Viertel geschrieben. Gemeinsam haben sie ein Programm für zwei Aktionswochen auf die Beine gestellt, das Archivaren, Anwohnern und anderen Interessierten gleichermaßen eine Bereicherung sein soll: Vom 20. bis zum 31. März finden neben einem Erzählabend auch Diskussionen und Führungen statt - sogar ein "Tatort" aus dem Westend der Siebzigerjahre wird gezeigt. "Wir wollen Menschen einladen, ihre Erinnerungen einzureichen, suchen gleichzeitig aber auch das Gespräch", sagt Historiker Goeke.

Im Viertel selbst, an Orten wie dem Griechischen Haus, sammeln sie Erinnerungsstücke seit Jahren. Dass sich jetzt auch die Stadt dafür interessiert, sei ja nett, sagt Constantinos Gianacacos, doch komme die Anfrage eben auch reichlich spät. "Sie versuchen zu retten, was noch zu retten ist", sagt Gianacacos. "Doch das Westend, das wir kannten, gibt es längst nicht mehr." Die Fassmacher und Gummifabriken von einst sind längst weg, die Wohnungsmieten dafür stark gestiegen. Und doch, meint Gianacacos, sei das Archiv-Projekt ein Lebenszeichen. "Es geht um das politische Statement: Migration gehört zur Stadt", sagt Gianacacos. "Wir sind mit unserer Geschichte Teil der Stadtgeschichte - und wir sind der schönste Teil der Geschichte! Sie hatte ja auch ihre anderen Teile." Es ist nur einige Jahrzehnte her, dass unweit des Griechischen Hauses die Nationalsozialisten ihre ersten Treffen abhielten.

Die Stadt hat im Westend erkennen müssen, dass sie ins Gespräch kommen muss, wenn sie Geschichte schreiben will. Auf den Aktionstagen können nun alle Münchner: erzählen, zuhören, sich austauschen.

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