Westend:Herr Rindfleisch und das Obst

Der Gemischtwarenhändler im Westend betreibt ein Geschäft, das aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Vor allem seine vielen Stammkunden wissen genau das zu schätzen. Noch, denn ein Ende ist absehbar

Von Valerie Höhne, Westend

Herr Rindfleisch greift nach einer Packung Zuckerschoten, die er morgens in der Großmarkthalle gekauft hat. Er reißt das Cellophan auf und lässt die Schoten auf die Waage fallen. Die Braunen sortiert er aus, die Grünen legt er vorsichtig wieder zurück. Wenn das Gewicht der Packung danach nicht mehr korrekt ist, fasst er in einen kleinen Korb mit frischen Zuckerschoten und füllt die schwarze Plastikschale auf, bis die Grammanzeige stimmt. Dann umwickelt er die Ware wieder mit Frischhaltefolie und klebt ein orangefarbenes Preisschild auf die Verpackung. Zuckerschoten kosten 1,99 Euro.

Herr Rindfleisch heißt Karl-Heinz mit Vornamen, die Kunden nennen ihn Herr Rindfleisch. Er trägt einen weißen Kittel, die Knopfleiste ist kaum merklich verfärbt. Unter seinem Pullover schimmert eine dicke silberne Kette. Er hat eine Halbglatze, das verbliebene Haar ist schlohweiß. Seit 33 Jahren führt er ein kleines Lebensmittelgeschäft im Westend. Früher gab es in der Straße zwei Bäckereien, erzählt er, heute haben Architektur-Büros und Start-ups solche Läden verdrängt.

Westend: Immer frisch, immer freundlich: Seit 33 Jahren bedient Karl-Heinz Rindfleisch die Kundschaft in seinem Laden im Westend.

Immer frisch, immer freundlich: Seit 33 Jahren bedient Karl-Heinz Rindfleisch die Kundschaft in seinem Laden im Westend.

(Foto: Robert Haas)

Herr Rindfleisch, 59, sagt, das Gemischtwarengeschäft werde mit ihm sterben. Ein paar Jahre, drei, vier, vielleicht auch fünf, wird er weitermachen. Sein Tag beginnt um sechs Uhr morgens in der Großmarkthalle, an sechs Tagen in der Woche. Meist kann er gegen 20.30 Uhr Feierabend machen. Für viele klingen die Arbeitszeiten abschreckend, aber es sei eine Sache der Gewöhnung: "Da ist Herzblut dabei". Als kleines Geschäft müsse man immer ein bisschen kämpfen, um zu überleben. Das ist ihm gelungen, er hat viele Stammkunden.

Um kurz vor acht Uhr früh sitzt Herr Rindfleisch in dem kleinen Hinterzimmer und liest Zeitung. Seinen Kittel trägt er schon, die Obst- und Gemüseregale hat er im Dunkeln bestückt, er kann vorne noch kein Licht machen. "Der Laden hat noch nicht geöffnet", erklärt er. Morgens raucht er eine Zigarette, Marlboro Light. Auf dem kleinen Holztisch liegt eine Bild-Zeitung. Er blättert von hinten, da kommt der Sportteil schneller. Sein Nummernschild liest sich RV - 1860. "RV" stehe für "richtiger Verein", "1860" für 1860 München. "Lieber tot als rot", sagt er und lacht, dann beißt er in ein Salamibrot und trinkt Krümelkaffee dazu. Seine Frau hat das Frühstück gebracht, in einer blauen Plastikdose. Herr Rindfleisch ist seit 30 Jahren verheiratet, man dürfe nur nicht bei jedem Streit aufgeben. Und die Frau müsse kochen können. Als Frau Rindfleisch den Laden betritt, sagt er "Grüß Gott". Um halb neun öffnet er die Tür des Geschäfts.

Westend: Zeugt vom Humor des Besitzers: eine hölzerne "Rabattmarke".

Zeugt vom Humor des Besitzers: eine hölzerne "Rabattmarke".

(Foto: Robert Haas)

Er kennt die Namen, die Zigarettenmarke und Lieblingsbiersorte der Menschen, die hier einkaufen. Einen Mann fragt er, wie denn die Tomaten gewesen seien, die er letztes Mal gekauft habe? "Sehr gut, sehr gut", sagt der Kunde, und Herr Rindfleisch antwortet: "Hab ich es doch gesagt. Die sind zwar teuer, aber eben auch die besten". Es kommen Bauarbeiter, Kneipenbesitzer, Karrierefrauen, Männer mit Kindern, Männer, die morgens schon einen Kasten Bier kaufen. Viele junge Menschen ("Die wollen wieder weg vom Plastik") lockt der Laden an. Das Geschäft hat kein Namensschild.

Herr Rindfleisch heizt nicht, nicht einmal im Winter. Das sei besser für die Ware. Deshalb fährt er jeden Morgen auch zwei Markisen aus. Und überhaupt: Zwar verkauft er auch Dinge wie Club Mate, Fritz Cola und Indian Pale Ales. Doch am liebsten mag er halt seine Obst- und Gemüseabteilung. Dann beschneidet er die Kräuterseitlinge weiter und zupft die braunen Blätter vom Rosenkohl.

Das Telefon läutet schrill, er nimmt ab. "Rindfleisch", es klingt hastig. Er notiert die Bestellung, Kartoffeln, Möhren, Pastinaken, Spitzkohl und zwei Flaschen Wein. Ein älterer Herr ist am Apparat, er sei nicht mehr so gut zu Fuß. Herr Rindfleisch zieht eine schwarze Sporttasche hervor und legt die Frischkost vorsichtig hinein. Ein Mann um die 40 mit Pferdeschwanz und ausgebeulter Jacke holt die Lebensmittel ab und bringt sie dem alten Herrn.

Im Hinterzimmer ist ein Fenster in die Ladenwand ein gelassen, es ist mit Holzimitat verklebt, aber immer einen Spalt geöffnet. So kann Herr Rindfleisch seinen Laden beobachten, wenn er mal hinten ist, aber das ist er eigentlich nur, wenn die Lieferanten kommen. Dann schneidet er sich eilig eine Scheibe Fertigkuchen ab und isst sie im Gehen, denn er kann keine Mittagspause machen, schließlich ist er allein.

Kurz nach 18 Uhr wird der Laden voll, Herr Rindfleisch schenkt Kindern Luftballons, er begrüßt Bekannte, fragt nach Lebenspartnern, nach Urlaubsplänen. Bevor er schließt, lugt er nach draußen, die Luft ist kalt. Er raucht seine Feierabendzigarette nur bis zur Hälfte, er muss noch Getränkekisten umräumen. Gleich wird er zur Metro fahren, Wein und Milchprodukte kaufen, Fladenbrot fürs Abendessen mit seiner Frau und Hund Teddy. Im Auto wird er laut Deep Purple hören, seine Lieblings-Band. Einmal hätte er Backstage-Tickets haben können, ein ehemaliger Schulkamerad von ihm sei Roadie. Aber er wollte nicht, "zu viele Leute", sagt er, und "die Band will doch nicht gestört werden".

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