Westend:Die Großfamilie lebt wieder auf

Vor 125 Jahren öffnete die Bergmannschule erstmals ihre Türen. Zum Jubiläum erinnern sich Mütter, Künstler, Lehrer, Zeitzeugen und Kinder aus 68 Nationen an die reichhaltige Geschichte und den Wandel im Westend

Von Andrea Schlaier, Westend

Die meterhohen Fenster zum Gollierplatz sind weit geöffnet, die Vögel zwitschern aufgeregt von den grünen Wipfeln. Friedrich Fichtner wartet kurz, bis die mächtigen Glockenschläge der St.-Rupert-Kirche gegenüber verklingen. Barfuß in Wildleder-Slippern, Leinenhose und stiftdicker Silber-Kette im offenen Polo-Shirt-Kragen, greift der 62-Jährige den ersten Akkord auf seiner Akustik-Gitarre: "Wir sind die Weeelt, wir sind die Kindeeer, wir sind die Schüler und wir gehen gern in die Bergmannschule. . ." Die satte Stimme des 1,90 Meter großen Schlacks vermag das leere Klassenzimmer auszufüllen. An diesem Freitag feiert die Grundschule an der Bergmannstraße 125-jähriges Bestehen, und Fichtner, ihr Rektor, stimmt für die Presse ein paar Tage zuvor die Hymne nach der We-are-the-World-Melodie für das eigene Haus an. Seine Schule ist eine Einrichtung, die wie wenige andere den Wandel im Westend durchlebt hat.

Als der stattliche Neurenaissance-Bau von Friedrich Löwel und Carl Hocheder 1891 eröffnet wurde, stand er noch recht allein auf weiter Flur. Die große Bauperiode im Westend hatte gerade erst begonnen. Gewerbe-, Handwerker- und Industriebetriebe wie etwa die Gummifabrik Metzeler, Fassfabriken oder die Chlorfabrik Wühr hatten sich angesiedelt. 1884 hatte die Augustiner-Brauerei ihr Backstein-Imperium errichtet. Arbeitskräfte aus ganz Bayern zogen her und brauchten neben billigem Wohnraum für ihre Familien Schulen für die Töchter und Söhne. 1300 Kinder lernten im Eröffnungsjahr in der Bergmannschule Lesen, Schreiben und Rechnen. Mehr als 70 saßen in einer Klasse.

Zur Ausstattung gehörte neben zwei Turnhallen und einer Suppenküche auch das Brausebad, das nicht nur die Schüler einmal die Woche nutzten, sondern auch die Armen der Gegend. 1902 öffnete hier zusätzlich die Hilfsschulklasse für lernschwache Kinder. Im Zweiten Weltkrieg war die zweite Studentenkompanie im Gebäude stationiert. In ihr leisteten die späteren Mitglieder der Widerstandsbewegung "Die weiße Rose", Hans Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf, ihren Militärdienst ab. Im letzten Kriegsjahr war in der Bergmannschule schließlich ein KZ-Außenkommando untergebracht. Von einer Brandbombe erheblich zerstört, musste das Schulhaus bis 1953 erst wieder aufgebaut werden.

"Wir haben hier so eine reiche Geschichte", findet Fichtner, "dass wir keine übliche Geburtstagsparty machen wollten." Also hat eine Schülermutter eine historische Stadtteil-Rallye vom Feinsten konzipiert. Sie schickt die Klassen mit Führerinnen zwei Stunden durchs Quartier, anhand der Lebensgeschichte des fiktiven Alois Oberhuber, Sohn eines Stallknechts bei der Augustiner-Brauerei. Der saß vor 125 Jahren in der ersten Klasse der Bergmannschule. Eine Nachfahrin, so will es die Rallye-Genealogie, heiratet einen jungen Griechen, der mit seiner Familie, wie immer mehr Menschen aus anderen Ländern, in den 1960er Jahren ins Westend zieht . . .

Tatsächlich beherbergte die Bergmannschule in ihrer wechselvollen Geschichte bis 1989 eine private griechische Volksschule und in den Achtzigerjahren auch mehrere zweisprachige türkische Klassen. Bunt sein gehört bis heute zum Markenkern. "Unsere knapp 400 Schüler stammen aus 68 verschiedenen Ländern", zählt Fichtner auf. Von "Brennpunkt-Schule" aber will er überhaupt nichts wissen: "Wir haben schließlich keine Übergriffe."

Das "We" aus der Welt-Hymne wird hier groß geschrieben. Auch in der Jubiläums-Woche. Ein Wuseln herrscht im ganzen Haus. Im Keller sitzt Künstlerin Katharina Naimer mit Kindern und bemalt große Holztafeln mit Westend-Motiven, die wegen Bedenken des Denkmalschutzes nicht wie vorgesehen die Schulmauer schmücken dürfen. "Ein Witz", entfährt es dem Rektor. Lehrerin Tina Eiglstorfer dreht nebenan mit der 3 b historische Schul-Szenen und ist überzeugt, das trage dazu bei, "dass Kinder die geschichtliche Entwicklung des Westends schauspielernd und handelnd nachempfinden". Zwei Stockwerke durch die hohen Flure auf den ausgetretenen Eichentreppen nach oben, übt sich die 3 c im Sütterlin-Schreiben mit Federkiel und Tinte. Vor der Tafel der 2 g sitzt Renate Basalyk, umringt von alten Schulheften und Alben voll mit Schwarz-Weiß-Fotografien. Eine Zeitzeugin, wie sie viele in diesen Tagen ins Haus kommen. "Auf einen Zeitungsaufruf hin", schwärmt Fichtner, "haben sich wahnsinnig viele gemeldet." Die Großfamilie Bergmannstraße, sie lebt gerade wieder auf.

Auch die politische Prominenz, die sich für den Festakt angekündigt hat, wird in den Kosmos eintauchen. In einem Spalier aus 70 Flaggen, die Sozialarbeiterin Vanessa Sonnberger mit Kindern gestaltet hat, wird sie zum "Fest der Nationen" in den Schulhof geleitet - die auch auf CD gepresste Welt-Hymne womöglich noch im Ohr

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