Westend:Blaumann und Brautkleid

Das Kulturzentrum Köşk im Westend öffnet sich der Geschichte der Münchner Migranten. Sie sind aufgerufen, Exponate zu bringen und zu erzählen, was sie in München geleistet haben

Von Andrea Schlaier, Westend

Im Haus der Großeltern in Adana stand eine große Walnuss-Truhe. Dort, wo das Mädchen Özlem Tetik mit Oma und Opa lebte. Die Eltern waren das Jahr über in Deutschland, um Geld zu verdienen. Jeden Sommer kamen die beiden zu Besuch in die Heimat im Südosten der Türkei. Immer führte der Weg von Özlems Mutter dann zur Walnuss-Truhe. Sie hob den Deckel und schaute nach, ob alles in Ordnung war, unversehrt, wie eine teure Erinnerung. Alles okay. Ihr zartes, weißes Brautkleid aus Spitze lag fein säuberlich gefaltet an seinem Platz.

In München hatte sie es gekauft und mit nach Adana genommen, wo man die Hochzeit gefeiert hatte. Als ihre Tochter Özlem elf Jahre alt geworden war, 1980 war das, nahmen die Eltern sie mit nach München. Und irgendwann kam auch das Brautkleid an die Isar. Seit Kurzem gehört es zu einem der berührenden Exponate im Münchner Stadtmuseum. Hier, wo die Mitarbeiter zusammen mit den Kollegen vom Stadtarchiv seit 2015 infolge eines Stadtratsbeschlusses die Geschichte und Gegenwart der Migration in München erforschen. Und zwar in "Kollaboration mit den Akteuren", wie die mitverantwortliche Migrationsforscherin Natalie Bayer klarstellt.

Museumslabor im Westend

Bewegte Geschichten: Özlem Tetik erzählt Familiengeschichten.

(Foto: Andrea Schlaier)

Wie das aussieht, wird zurzeit im Kulturraum Köşk an der Schrenkstraße 8 vorgelebt. Elf Tage lang haben Stadtmuseum und Stadtarchiv hier das "offene Museumslabor im Westend" eingerichtet. Werktags von 15 bis 19 Uhr sind Menschen, die selbst oder deren Eltern einmal nach München zugewandert sind, aufgerufen, Accessoires ihres Lebens vorbeizubringen: Kleider, Kassetten, Schulhefte, Briefe, eben Erinnerungsgegenstände, mit denen sie eigene Geschichte verbinden, von der sie bei der Gelegenheit dann auch gleich erzählen können. An einzelnen Abenden werden die Stücke und Storys öffentlich präsentiert. Am Freitag, 14. Juli, schließlich mündet das gemeinsame Sammeln in eine Ausstellung. Im Herbst wandert diese dann direkt ins Stadtmuseum.

An einem der Präsentationsabende tritt Özlem Tetik vors Publikum. Die ausgebildete Erzählerin öffnet vor aller Ohren noch einmal die Familien-Truhe aus Walnussholz. "Özlem ist eine wichtige Person für das Projekt", sagt Natalie Bayer, "und gehört dem 2012 gegründeten Fachbeirat an, der die Migrationsgeschichte in der Stadt mitgestaltet". Im Publikum sitzt auch Türkán Uçar, im blau-weiß gestreiften Trägerkleid. Die 49-Jährige hat alte türkische Musik-Platten ihrer Eltern in einer der bereit stehenden Vitrinen ausgestellt. "Man hörte sie bei uns immer nur am Wochenende und in Gesellschaft, wir Kinder durften sie nicht anfassen, sie waren unseren Eltern heilig." Wenn der Vater die "Herz-Schmerz-Arabesken" von Orhan Gencebay aufgelegt habe, "mussten wir in unsere Zimmer gehen". Bewegt von Sehnsucht wollte er allein sein.

Museumslabor im Westend

Das Ehepaar Cenk und Türkán Uçar steuert das Deutsch-Türkisch-Lexikon und Platten der Eltern bei.

(Foto: Andrea Schlaier)

Genau solche Geschichten sind es, die Natalie Bayer und Simon Goeke suchen. Sie kümmern sich für das Stadtmuseum um das Projekt "Migration bewegt die Stadt". "Wir könnten auch in Sendling oder dem Hasenbergl mit diesem ersten Schritt beginnen, aber im Westend ist die Migrationsgeschichte noch besonders sichtbar, und außerdem sind noch viele Akteure selbst hier." Außerdem hat Bayer einen engen Kontakt zum Viertel geknüpft, seit sie über die Bedeutung des NSU-Prozesses für München geforscht und in dem Zusammenhang mit der Familie des im Westend aufgewachsenen und ermordeten Theodoros Boulgarides "gearbeitet" hat. Seine Angehörigen haben in der Folge die Lyra des Terror-Opfers dem Stadtmuseum für Ausstellungszwecke überlassen.

"Bei unserer Arbeit geht es darum", erläutert die Historikerin, "einen Grundstock zu schaffen, damit Migrationsgeschichte als Teil der Stadtgeschichte bearbeitet werden kann". Es gelte, nicht nur auszustellen und zu vermitteln, sondern Vertrauen zu schaffen, um überhaupt erst Zugang zur gelebten Vergangenheit und Gegenwart herstellen zu können. Das Interesse der Menschen mit Zuwanderungsvita sei entgegen früheren Unterstellungen sehr groß. Mit diesen Akteuren werden gemeinsam Konzepte geschmiedet, über was sie zu reden bereit sind und in welchem Kontext - also nicht über ihre Köpfe hinweg.

Museumslabor im Westend

Özlem Tetik erzählt beim Museumslabor vom Brautkleid ihrer Mutter.

(Foto: Privat)

Deshalb haben Bayer und Goeke bereits im Frühjahr Aktionstage im Westend mitveranstaltet, Erzählabende, Poetry Slam, solche Sachen, und die Leute aus dem Viertel als Vortragende eingebunden. Bayer berichtet von sich anschließenden Workshops für Multiplikatorinnen, denen sie dann auch das Wesen der Museumsarbeit erläutert hätten. Frauen von Donna Mobile waren etwa dabei, der Fördereinrichtung für Migrantinnen im Westend. Mit der Gruppe machten sie einen "kritischen Rundgang" durchs Stadtmuseum und ermunterten sie, zu mahnen, an welcher Stelle Migrationsbeiträge fehlten. Kurzum: "Wir wollen die Menschen am Geschichtsschreibungsprozess beteiligen." Einmalig sei dieses Vorgehen in der bundesweiten Museumslandschaft. Bayer muss es wissen. Sie schreibt gerade ihre Doktorarbeit über den "Migrationsdiskurs im deutschen Museumsumfeld".

Die Mühe jedenfalls trägt erste Früchte. Während der Woche kam eine Frau ins Köşk mitsamt ihrem Blaumann aus MAN-Zeiten, erzählt die Historikerin. "Sie hat sich wahnsinnig stark mit ihrem Betrieb identifiziert und ihren Overall sowie Urkunden für die Ausstellung zur Verfügung gestellt - und auch den Seidenblumenstrauß, den sie zum 25-jährigen Betriebsjubiläum überreicht bekommen hatte."

Ein weiteres Exponat stammt von Türkán Uçars Schwiegervater Metin. Ihr Mann, Cenk Uçar, hält das blau eingeschlagene Langenscheidt-Lexikon Türkisch-Deutsch in Händen. "Mein Vater hat es sich 1973 sofort gekauft, als ihn meine Mutter aus der Türkei zu sich, zunächst nach Landshut, geholt hat." Cenk Uçar grinst: "Begriffe wie Migration und Integration standen damals noch nicht drin." Seiner selbstbewussten Frau Türkán überlässt er das Fazit: "Es war höchste Zeit, dass die Migrationsgeschichte erforscht wird. Ich finde es schön, dass man so beachtet wird."

Ausstellung "Unser Museumslabor Westend", Freitag, 14. Juli, 18 bis 20 Uhr, im Köşk, Schrenkstraße 8, von 22 Uhr an Party mit DJane Ü.

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