Weltfrauentag:Wie Kinder häusliche Gewalt verarbeiten

Im Frauenhaus der Frauenhilfe München verarbeiten Kinder, die häusliche Gewalt erlebt haben, das Erlebte in Bildern

"Meine schlimmen Träume kommen immer wieder", sagt und malt ein zehnjähriges Mädchen im Frauenhaus der Frauenhilfe München.

(Foto: Frauenhilfe München/oh)
  • Der Weltfrauentag macht auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam: Mehr als 100 000 Frauen werden in Deutschland jedes Jahr Opfer von Gewalt in der Partnerschaft. Die Münchner Polizei zählte 2015 3225 Anzeigen wegen häuslicher Gewalt.
  • Das Frauenhaus München bietet Müttern und ihren Kindern Schutz und Hilfe bei der Verarbeitung des Erlebten.
  • Es arbeitet mit konsequenten Vorsichtsmaßnahmen. Ein Notruftelefon ist rund um die Uhr erreichbar.

Von Kerstin Kerscher

Das Gespenst hat seine gezackten Flügel ausgebreitet, aus seinem Mund mit den spitzen Zähnen fallen grüne Tropfen. Die dunklen Augen sind fest auf die Frau mit den langen braunen Haaren neben ihm gerichtet: Sie scheint Angst zu haben, zurückweichen zu wollen. Um sie herum zucken gelbe Blitze.

Diese Szene spielt sich in einer Denkblase ab, die bedrohlich groß über einem kleinen, schlafenden Mädchen schwebt. Eine Zehnjährige hat das Bild gemalt: "Meine schlimmen Träume kommen immer wieder", sagt sie dazu. Sie ist eines der Kinder, die mit ihrer Mutter im Frauenhaus der Frauenhilfe München Zuflucht gesucht haben, Mutter und Tochter flohen vor dem gewalttätigen Vater.

Der Weltfrauentag an diesem Mittwoch macht auf die anhaltende Gewalt gegen Frauen aufmerksam: Mehr als 100 000 Frauen werden in Deutschland jedes Jahr Opfer von Gewalt in der Partnerschaft. Die Münchner Polizei zählte 2015 3225 Anzeigen wegen häuslicher Gewalt, für 2016 liegen noch keine Zahlen vor. Fest steht aber: In der überwiegenden Zahl der Fälle geht die Gewalt von Männern aus, 2015 waren es knapp 80 Prozent. Im selben Zeitraum hat die Frauenhilfe München ungefähr 350 von Partnergewalt betroffene Frauen persönlich beraten, 100 Frauen mit 101 Kindern suchten Schutz im Frauenhaus.

Zu ihrer Sicherheit ist die Adresse des Frauenhauses geheim. Die Frauen und Kinder leben dort in eigenen kleinen Appartements mit maximal zwei Zimmern, sie können für sich kochen und selbstständig ihren Alltag gestalten. Miete zahlen die Frauen nur, wenn sie ein eigenes Einkommen haben, Beratung und Hilfe sind kostenlos. Die Angebote der Frauenhilfe München und das Frauenhaus werden aus Mitteln der Stadt München, des Freistaates und aus privaten Spenden finanziert.

Wie ergeht es Frauen und ihren Kindern im Frauenhaus? Was müssen sie verarbeiten? Wie bereiten sie sich auf die Rückkehr in die Welt draußen vor? Ein Gespräch mit Betroffenen über diese Fragen war nicht möglich, der Schutz ihrer Psyche geht vor. Doch die vor vier Jahren erschienene Broschüre der Frauenhilfe "Schau her, so geht es mir!" lässt erahnen, was die Kinder bewegt: Darin sind Bilder zu sehen, die sie in der heilpädagogischen Spielbehandlung gemalt haben, um das Erlebte zu verarbeiten.

Das Bild des zehnjährigen Mädchens mit den Albträumen, zum Beispiel. Es zeigt die Erfahrungen sehr direkt, Interpretationen fallen nicht schwer. Andere Kinder drücken sich weniger offensichtlich aus, sie wählen abstrakte Motive für ihre Ängste. Naturkatastrophen sind ein wiederkehrendes Symbol für das Gefühl, hilflos unberechenbaren Gefahren ausgesetzt zu sein. Dann setzt im Bild eine Sintflut alles unter Wasser, die Sonne fällt vom Himmel und alle Menschen verbrennen oder erfrieren in einem Sturm.

Kinder erleben die Gewalt zu Hause immer mit

Häusliche Gewalt in physischer, sexueller oder psychischer Form gibt es in allen gesellschaftlichen Schichten, sie ist unabhängig von sozialem Milieu oder Bildungsstand. Barbara Hanke, Beraterin in der Beratungsstelle der Frauenhilfe München, erlebt das jeden Tag hautnah: "Unser Publikum ist bunt gemischt. Zu uns kommen Frauen ohne Ausbildung und Akademikerinnen, zum Beispiel Ärztinnen und Juristinnen."

In drei Viertel der betroffenen Haushalte leben Kinder, die Täter sind meist ihre leiblichen Väter. "Atmosphärisch bekommen sie die Gewalt immer mit. Die Bedrohungssituation in der Familie prägt den gesamten Alltag", sagt Caroline Beekmann, die stellvertretende Leiterin der Frauenhilfe München.

Die meisten Kinder, fast 90 Prozent, erleben die Gewalt auch direkt: Sie sind im selben Raum, sehen mit an, wie der Vater die Mutter bedroht, beleidigt, schlägt. Manche versuchen dann, möglichst nicht aufzufallen, andere wollen den Vater ablenken und aufmuntern, spielen den Clown. Einige gehen dazwischen, um die Mutter zu schützen, und bringen sich damit selbst in Gefahr. Mehr als ein Fünftel der Kinder wird zum unmittelbaren Opfer von Gewalt.

"Wir merken bei den Kindern eine starke Unruhe"

Angst und Bedrohung zu Hause haben zum Teil dramatische Folgen für Kinder: Sie stehen unter permanentem Stress, können ihre natürlichen Trotzphasen und ihren Drang, Neues zu entdecken, nicht ausleben. Das führt zu Verzögerungen in ihrer Entwicklung, sogar zu Sprachstörungen. Unsicherheit oder Aggressivität, emotionale Labilität und ein niedriges Selbstwertgefühl sind bei den Kindern oft weitere Symptome ihrer Belastung.

Im Frauenhaus gibt es ein Team aus vier Erzieherinnen und zwei Heilpädagoginnen, die sich um die Kinder kümmern. Aktuell leben dort 58 Kinder mit ihren Müttern, je nach Altersgruppe gibt es unterschiedliche Betreuungsangebote: eine Mutter-Kind-Gruppe für die Null- bis Dreijährigen zum Beispiel, Hausaufgabenbetreuung und einen Jugendtreff für die Älteren.

Wenn sie ins Frauenhaus kommen, zeigen nicht alle Kinder deutliche Auffälligkeiten. Aber: "Wir merken bei den meisten Kindern eine starke körperliche und innere Unruhe. Sie können sich schlecht konzentrieren, haben eine extrem niedrige Frustrationstoleranz und können nicht mit Konflikten umgehen", sagt Beate Nuspl, Leiterin des Kinderbereichs im Frauenhaus. Und: "Manche Kinder, die sich vorher möglichst unauffällig verhalten haben, sich bei einem Streit unter ihrer Decke verkrochen haben, explodieren oft bei uns erst richtig."

Nicht nur für die Frauen, auch für die Kinder ist das Frauenhaus ein Schutzraum, in dem sie Schritt für Schritt Sicherheit gewinnen können. Anfangs hängen sie oft stark an der Mutter, wollen nicht loslassen. Wenn sie aber langsam merken, dass die Mutter versorgt ist, es ihr gut geht, können sich auch die Kinder entspannen.

"Vielen Kindern hilft die Gruppe. Sie sehen, dass es in anderen Familien ähnliche Probleme gibt, und tauschen sich aus", sagt Nuspl. Gemeinsam machen sie Ausflüge ins Schwimmbad oder in Museen, kickern, schaukeln im großen Garten oder feiern Geburtstage.

Ganz vergessen können die Kinder das Erlebte nie

Doch die Erinnerung an das Erlebte schwebt ständig über ihnen und kann sie jederzeit wieder einholen, in alltäglichen Situationen, Albträumen oder beim Umgang mit dem Vater, wenn es ihn gibt. Gerade die Beziehung zu ihm ist für die Kinder schwierig: Sie haben das Gefühl, sich für einen Elternteil entscheiden zu müssen, hängen sehr stark an der Mutter und vermissen - trotz allem - den Vater.

"An einem Tag hassen die Kinder den Papa, am nächsten wollen sie bei ihm wohnen", sagt Nuspl. Im Frauenhaus sollen sie lernen, dass sie alles sagen dürfen, auch das, was sie sich jahrelang nicht einmal getraut haben zu denken. "Sie dürfen diese Ambivalenzen haben und wir unterstützen sie dabei, ihre Gefühlswelt zu entdecken."

Im Schnitt bleiben die Frauen und ihre Kinder fünf Monate lang im Frauenhaus. In dieser Zeit entwickeln sich die Kinder meist sehr schnell weiter, sie lernen sich selbst kennen und gewinnen an Selbstwertgefühl. Der Großteil der Frauen erarbeitet sich währenddessen eine eigene, vom gewalttätigen Partner unabhängige Lebensperspektive, sucht eine eigene Wohnung.

Zum Auszug wird dann für jedes Kind ein Abschiedsfest gefeiert. So auch für das zehnjährige Mädchen mit den schlimmen Albträumen: Es hat das Frauenhaus mit seiner Mutter verlassen.

Von Partnergewalt betroffene Frauen können sich an die Frauenhilfe München wenden. Das Rund-um-die-Uhr-Telefon ist täglich 24 Stunden lang besetzt und unter 089/354830 zu erreichen.

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