Wanderarbeiter im Winter:Chancen unter Null

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Im Sommer schlagen sich viele Wanderarbeiter in München ohne feste Bleibe durch - mit Niedrigstlöhnen ausgebeutet und häufig ohne Anspruch auf medizinische Versorgung. Im frostigen Winter wird das lebensgefährlich. Doch mitten in der Stadt gibt es Hilfe.

Von Antonie Rietzschel

Schnee. Für Andrea Untaru hat er jede Schönheit verloren. Sie zuckt zusammen, als sie beim Blick aus dem Fenster die zarten Flocken sieht, die auf den Asphalt schweben. "Oh nein", sagt die 34-Jährige fast erschrocken. Schnee bedeutet Kälte, bedeutet, dass ihre "Klienten" - so nennt sie die Wohnungslosen, mit denen sie zusammenarbeitet - spätestens morgen früh frieren. Punkt 9 Uhr müssen sie die Kälteschutzräume in der Bayernkaserne verlassen haben, die Untaru und ihre Mitarbeiter ihnen für heute Nacht zugewiesen haben. Es gibt bestimmte Orte in München, an denen sich Wohnungslose auch tagsüber aufhalten können, wo sie die Möglichkeit haben, ihre Wäsche zu waschen oder eigenes Essen zu kochen. Das gilt jedoch nur für diejenigen, die in München gemeldet sind.

Andrea Untarus Klienten gehören nicht dazu, sie sind vor allem Tagelöhner aus Rumänien oder Bulgarien. In den vergangenen drei Jahren hat ihr Anteil unter den Wohnungslosen in München dramatisch zugenommen. Schon in der Kälteschutzperiode 2012/2013 verdoppelte sich die Anfrage nach Übernachtungsmöglichkeiten im Vergleich zum Vorjahr, der Trend dürfte 2013/2014 noch zunehmen. 1700 Menschen wurden untergebracht. Dafür mussten zusätzlich Räume geöffnet werden. Denn auch wenn die Tagelöhner keinen Rechtsanspruch auf Unterbringung haben - auf der Straße erfrieren sollen sie nicht.

Diese Gefahr besteht durchaus: So schlug während des vergangenen Sommers eine 16-köpfige Roma-Gruppe kurzerhand ihr Lager südlich vom S-Bahnhof München-Perlach auf. Mehrere Monate lang hausten sie dort unter Brettern, Planen und Decken zwischen Bäumen und Sträuchern - ohne Strom, Toiletten und fließendes Wasser. Morgens schwärmten die Bewohner des wilden Camps in die Stadt aus und kehrten oft erst nachts zurück. Als das Lager Ende Oktober aus hygienischen Gründen und wegen des bevorstehenden Winters aufgelöst werden musste, verschwanden die rumänischen Wanderarbeiter notgedrungen. Wohin, weiß man nicht. Spuren von Menschen, die im Freien übernachten, finden sich aber nach wie vor im Stadtgebiet. Beispielsweise auf Brachflächen oder in verlassenen Gebäuden der Bundesbahn, etwa im Gleisdreieck zwischen Berg am Laim und Trudering.

Für dieses Jahr hat die Stadt jedenfalls ihr Kälteschutzprogramm erweitert: Insgesamt stehen bis Ende März 520 Übernachtungsplätze zur Verfügung. In der Schillerstraße 25, direkt in der Nähe des sogenannten Arbeiterstrichs, auf dem die Tagelöhner sich anbieten, eröffnete das Evangelische Hilfswerk im Auftrag der Stadt Anfang November die Migrationsberatung Wohnungsloser. Hier arbeiten bisher drei Sozialpädagoginnen unter der Leitung von Andrea Untaru. Im Januar soll ein weiterer Kollege das Team verstärken. Fast alle Mitglieder haben selbst Migrationshintergrund und sprechen mehrere Sprachen. Untaru selbst kam 2002 aus Rumänien nach Deutschland.

Vom späten Nachmittag an sind zusätzlich mehrere Freiwillige da - auch sie sprechen verschiedene Sprachen: russisch, bosnisch, bulgarisch oder französisch. Sie erledigen das Kerngeschäft der Beratungsstelle und füllen an Computern die Einweisungsscheine für die Wohnungslosen aus, mit denen diese dann für vier Tage ein Bett zugewiesen bekommen. Jedoch immer nur von 17 Uhr bis 9 Uhr.

Auch an diesem Abend hat die Stadt die Kälteschutzräume geöffnet, die Temperaturen sollen unter Null sinken. Im Vorraum der Schillerstraße stehen die Menschen dicht an dicht, die meisten sind Männer: junge Burschen mit flaumigen Bärten, Kerle, denen Wind und Wetter das Gesicht zerfurcht haben. Viele kommen gerade von irgendeiner Baustelle und tragen noch die verstaubten Arbeitshosen. Schweigend nippen sie an Plastikbechern mit warmem Tee, den sie hier umsonst bekommen. Sind sie an der Reihe, geben sie ihren Pass an einen der Freiwilligen und warten geduldig auf ihren Schein. Einer der Männer will seinen Kollegen mit einweisen, der nicht selbst kommen kann. "Er arbeiten bis 1 Uhr", sagt er in gebrochenem Deutsch zu dem Freiwilligen, der dessen Papiere bearbeitet. Jener erklärt ihm, dass das nicht gehe. Der Kollege müsse selbst kommen, könne sich aber notfalls auch direkt in der Bayernkaserne melden. Wieder ein anderer kann sich überhaupt nicht ausweisen. "Gebt ihm trotzdem einen Schlafplatz", sagt Untaru. "Wir können ihn ja nicht auf der Straße schlafen lassen."

Liviu (Name geändert) gehört zu den jungen Burschen. Mit den hellen Augen, den langen Wimpern und dem rosigen Gesicht sieht er jünger aus als 25. Er kommt aus Cluj, einer Stadt im Westen Rumäniens. Andrea Untaru freut sich, als sie ihn in der Gruppe entdeckt. Alle hier mögen Liviu, weil er so viel lächelt. Der junge Rumäne ist seit mehr als einem Jahr in München und schlägt sich als Maurer oder Maler auf Baustellen durch. Bei seinem jüngsten Job habe er 500 Euro in der Woche verdient. Gerade hat er wieder keine Arbeit. "Ich will was Festes", sagt Liviu. "Eine Arbeit mit Vertrag." Ein Wunsch, den auch die anderen Männer um ihn herum haben.

Dass sie und Liviu auf der Straße leben, sei die Schuld der Arbeitgeber, sagt Andrea Untaru. "Sie halten die Männer mit dem Versprechen hin, ihnen irgendwann einen Vertrag auszustellen, und wenn die dann auch darauf bestehen, werden sie rausgeschmissen. Dann können sie sich auch nicht mehr das Zimmer leisten, das sie angemietet haben." Zurück in die Heimat zu gehen, ist für die wenigsten eine Option. Zu groß ist die Angst, vor der Familie und den Nachbarn als Verlierer dazustehen.

In ihrer Verzweiflung suchen die Menschen Rat bei Andrea Untaru und ihren Kolleginnen. An diesem Abend zum Beispiel eine junge Frau. Im achten Monat schwanger. Das vierte Kind. Sie erzählt, sie stamme ursprünglich aus dem Kongo, sei aber aus Frankreich nach Deutschland gekommen. Untergekommen sei sie bisher bei einer Tante, doch die habe sie rausgeworfen. Eine junge Studentin übersetzt. "Wie finde ich eine Wohnung? Hilft der Staat bei der Arbeitssuche nach der Geburt?" Eine Kollegin mischt sich ein. "Wir müssen ihr ganz klar ihre Situation klar machen", sagt sie auf Deutsch. Heißt: "Keine Arbeit, keine Wohnung. Keine Wohnung, keine Anmeldung. Keine Anmeldung, keine Sozialhilfe", lässt Andrea Untaru auf Französisch übersetzen.

"Aber ich habe doch gearbeitet", sagt die junge Frau. "Können Sie das nachweisen - durch eine Rechnung beispielsweise?" - "Nein." Untaru beugt sich zu der Frau vor. Sie vermeidet es, ihr in die Augen zu schauen. "Ihre Chancen, hierbleiben zu können, sind äußerst gering", sagt sie. Alles, was sie der Frau an diesem Abend mitgeben kann, ist ein Zettel, auf dem Essensausgaben für Wohnungslose verzeichnet sind. Und eine Einweisung in das "Haus International". Dort stehen während des Kälteschutzes 50 Schlafplätze für Frauen mit Kindern zur Verfügung. Doch die Sozialpädagogin weiß: Morgen früh wird die Schwangere mit ihren drei Kindern wieder auf der Straße stehen.

© SZ vom 03.12.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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