Jubiläum:Bau der Stammstrecke: Eine Schneise durch die Stadt

Plan der Abschnitte der S-Bahn-Stammstrecke am Hauptbahnhof um 1966

Blick auf eine Karte am Hauptbahnhof, die die Passanten über die verschiedenen Bauabschnitte des S-Bahn-Baus informiert.

(Foto: Fritz Neuwirth/SZ-Photo)
  • Vor 50 Jahren begann der Bau der Stammstrecke unter der Münchner Innenstadt.
  • In vielen deutschen Städten gab es zu diesen Zeitpunkt bereits Schnellbahnen.
  • In München gab es Streit um die Trasse und das Geld - und die Ingenieure hatten mit manch kniffeligen Problem zu kämpfen.

Von Marco Völklein

Wenn Alexander Freitag sein Büro im fünften Stock des Hauses an der Thierschstraße betritt, dann weiß er, dass er auf geschichtsträchtigem Boden unterwegs ist. Von der Zentrale am Isartor aus wird der Münchner Verkehrs- und Tarifverbund (MVV) gelenkt. Und direkt unter dem Schreibtisch des Geschäftsführers rauscht die S-Bahn durch den Untergrund. An der Stelle des heutigen MVV-Geschäftsgebäudes stand noch bis zur zweiten Hälfte der Sechzigerjahre ein Vorgängerbau. Der musste, neben vier weiteren Gebäuden in dem Karree, für den Bau der S-Bahn-Röhre abgerissen werden. Später wurde der Nachfolgebau errichtet. In ihm sitzt nun der Chef des Verbunds mit seinen etwas mehr als 80 Mitarbeitern.

Die Geschichte des MVV-Hauses ist eine von vielen, an die man sich in diesen Tagen erinnern kann. Denn vor 50 Jahren, am 15. Juni 1966, begann die damalige Bundesbahn mit dem Bau der S-Bahn-Stammstrecke zwischen Pasing und Ostbahnhof - und die Innenstadt wurde zu einer riesigen Baustelle.

In der Arnulf- und der Prielmayerstraße klafften riesige Gruben. Unter das Karlstor und unter das Isartor wurden gigantische Stützkonstruktionen geschoben, um ein Zusammenbrechen der historischen Bauwerke zu verhindern. Und in der Isar versenkten Bautrupps teils tonnenschwere Stahlbetonplatten, um den Druck auf das Erdreich zu erhöhen - damit nichts schiefgeht, wenn sich später die Tunnelbohrmaschine durch den Münchner Boden frisst.

Erste Ideen für ein S-Bahn-Netz in München gab es bereits vor dem Zweiten Weltkrieg - auch den Plan, den Haupt- mit dem Ostbahnhof abseits des recht aufwendigen Schlenkers über den Bahn-Südring zu verbinden. Doch erst in den Fünfzigerjahren greifen Planer der Stadt und der Bundesbahn die Idee wieder auf. Grund dafür sind die gravierenden Verkehrsprobleme, vor die sich die Stadt gestellt sieht. Ähnlich wie heute strömten auch damals Zuzügler in die Region, die Pendlerschar wuchs. Busse und Trambahnen waren überfüllt, ebenso die (ohnehin veralteten) Vorortbahnen der Bundesbahn. Auch auf den Straßen ging nichts mehr wegen der zunehmenden Motorisierung und weil das schlechte Nahverkehrsangebot die Leute mehr oder weniger ins Auto trieb. Spätestens in den Sechzigerjahren erkannten die Stadträte unter dem jungen SPD-Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel: So geht's nicht weiter.

Vorbilder sind schnell gefunden: Berlin hat bereits seit Jahrzehnten eine S-Bahn, ebenso Hamburg. Auch in München denken die Planer daran, die Vorortbahnen durch das Zentrum zu führen und sie mit einem neuen, städtischen U-Bahn-Netz zu verknüpfen. Kernelement dieses zukünftiges Netzes soll die Verbindungsstrecke von Pasing über den Hauptbahnhof bis zum Ostbahnhof sein - die sogenannte V-Bahn, die "Verbindungsbahn".

Streit um Geld und Route

Doch über die gibt es heftigen Streit zwischen allen Beteiligten. So geht es zwischen Bund, Freistaat und Stadt nicht nur um die Finanzierung, vielmehr erheben sowohl die Ingenieure der Bundesbahn wie auch die Planer der Stadt Anspruch auf die sogenannte "klassische Trasse", also die West-Ost-Verbindung über den Marienplatz, die seit Jahrzehnten von der Trambahn befahren wird. Lange Zeit plant die Stadt dort eine "Unterpflaster-Straßenbahn". Erst als sich U-Bahn-Fan Vogel gegen die zunächst zahlreichen Befürworter der Unterpflastertram durchsetzt, ist auch der Weg frei für die V-Bahn-Planungen der Bundesbahn auf der klassischen Trasse.

Am 15. Juni 1966 schließlich wird gefeiert - und zwar der "erste Rammstoß" an der Straßenecke Arnulf- und Seidlstraße. Der Bundesverkehrsminister ist da, der Ministerpräsident ebenso, dazu der Chef der Bundesbahn. Ein Arbeiter versenkt den ersten Bohrpfahl im Boden, es gibt Reden, Blumen, eine ganze Menge Fotos. Am Tag darauf allerdings kritisiert die Abendzeitung in ihrer Ausgabe, das ganze Brimborium sei ein rechter "Frühstart" gewesen, die Gästeschar "aufs falsche Gleis verladen" worden. Tatsächlich hatten die Arbeiter damals lediglich damit begonnen, einen alten Posttunnel zu verlegen, der der neuen S-Bahn-Röhre im Wege war. Mit den Bauarbeiten am eigentlichen Stammstreckentunnel legten sie erst später los.

Dann allerdings ging es Schlag auf Schlag. Binnen weniger Jahre erkannten viele Münchner ihre Innenstadt kaum wieder. Wegen der geringen Tieflage des Tunnels mussten die meisten Abschnitte in offener Bauweise gegraben werden. In den Straßen der Innenstadt, am Stachus und am Marienplatz prägten große Baugruben das Bild. Um den Verkehr während der Bauzeit halbwegs aufrechtzuerhalten, wurde von 1967 an ein grundlegend neues Tram-Liniennetz samt südlicher und nördlicher Altstadtumfahrung geknüpft.

Als besonders knifflig stellten sich die Tunnelbauten am Karlstor, unter dem Alten Rathaus sowie am Isartor dar. Alle drei Bauwerke mussten mit aufwendigen Konstruktionen gestützt werden. Das Isartor, so ist einem Zeitungsbericht vom Dezember 1966 zu entnehmen, hätten die Bahn-Ingenieure sogar am liebsten "Stein um Stein" abgetragen. Im Flussbett der Isar mussten Stahlbetonplatten eingesetzt werden, denn anders als in den Straßen der Innenstadt entschieden sich die Ingenieure hier nicht für einen Tunnelbau in offener Bauweise, vielmehr wollten sie sich mit einer Vortriebsmaschine unter der Isar hindurchwühlen.

Um zu verhindern, dass Wasser eindringt, wurde ein Überdruck erzeugt - und das nur gut zwölf Meter unter dem Flussbett. Ohne die Platten, schreiben die Buchautoren Reinhard Pospischil und Ernst Rudolph in ihrem Standardwerk "S-Bahn München" aus dem Jahr 1997, "hätte die Gefahr des unkontrollierten Entweichens der Luft bestanden".

Am 25. Februar 1971 wird schließlich Richtfest in der Tunnelröhre gefeiert, im Mai 1972 der S-Bahn-Betrieb aufgenommen. Rasch entwickelt sich die S-Bahn zum Erfolg, auch dank der neu entwickelten Fahrzeuge vom Typ ET 420. Mit zum Erfolg trägt auch der gemeinsame Tarif in einem einheitlichen Verbund bei, dem MVV. Der ermöglicht es erstmals, die städtischen Verkehrsmittel (inklusive der bereits 1971 in Betrieb genommenen U-Bahn) und die S-Bahnen der Bundesbahn mit nur einem Fahrschein zu nutzen. "Das", sagt der MVV-Chef in seinem Büro, während unter ihm die Züge durch den Tunnel rauschen, "war ein immens großer Schritt."

Tunnel in Zahlen

Die S-Bahn-Stammstrecke zieht sich von Pasing bis zum Ostbahnhof über eine Länge von insgesamt elf Kilometern. Kernstück ist der 4,3 Kilometer lange Tunnel, der östlich der Hackerbrücke abtaucht und westlich des Ostbahnhofs wieder ans Tageslicht kommt. Um das S-Bahn-Netz zu knüpfen, wurden parallel zum Tunnel die Vorortstrecken ausgebaut - vorgesehen waren für all diese Investitionen zunächst 490 Millionen Mark. Am Ende wurden 906 Millionen Mark verbaut. Heute befahren in den Hauptverkehrszeiten 30 Züge pro Stunde und Richtung die Röhre. Ausgelegt war das S-Bahn-System ursprünglich für 220 000 Fahrgäste täglich. Heute fahren an einem Tag durchschnittlich 840 000 Menschen mit der S-Bahn. Der Wagenpark umfasst etwa 250 Fahrzeuge vom Typ ET 423 und ET 420. Betrieben wird die S-Bahn von der Deutschen Bahn. Die beschäftigt bei der S-Bahn etwa 1100 Mitarbeiter, 600 davon als Lokführer. Der Rest arbeitet im Service, in der S-Bahn-Werkstatt in Steinhausen sowie in Disposition und Verwaltung. mvö

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