Von Grünwald nach Erbil:"Ich schwimme gerne gegen den Strom"

Von Grünwald nach Erbil: Wenn die Kinder einen Menschen aus dem Westen sehen, sagt Rouven Bürgel, kommen sie gleich neugierig her. Sie sind dankbar für das Fitnesstraining.

Wenn die Kinder einen Menschen aus dem Westen sehen, sagt Rouven Bürgel, kommen sie gleich neugierig her. Sie sind dankbar für das Fitnesstraining.

(Foto: privat)

Begeisterte Kinder und Frauen, die in langen Gewändern mittrainieren: Fitnesscoach Rouven Bürgel gibt Flüchtlingen im Irak Sportunterricht, trotz der Bedrohung durch den IS. Mehrmals im Jahr fliegt er nach Kurdistan, wo Hundertausende in Lagern leben, und sorgt für ein wenig Abwechslung im tristen Alltag

Interview von Lenka Jaloviecova

Rouven Bürgel versucht, Flüchtlinge im Nordirak für Sport zu begeistern. Seit 2013 arbeitet der 33-jährige Grünwalder für die internationale Hilfsorganisation Rwanga und besucht regelmäßig Flüchtlingscamps in Baherka, wo Sunniten und Schiiten leben, und in Qushtapa, wo mehrere Tausend syrische Flüchtlinge in Zelten der Vereinten Nationen untergebracht sind. Insgesamt fast zwölf Monate hat der Fitnesstrainer und ehemalige Bundeswehrsoldat in der Stadt Erbil schon verbracht. Seit Sonntag ist er wieder in der Region, die als Hochburg der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gilt, und spricht am Telefon mit der SZ über seine Erfahrungen.

SZ: Sie sind gerade wieder nach Kurdistan geflogen. Eine Region im Nordirak, aus der die Menschen in Richtung Europa fliehen. Sie machen das Gegenteil. Warum?

Rouven Bürgel: Das ist eher eine persönliche Sache. Es passt zu meiner Persönlichkeit. Ich schwimme gerne gegen den Strom.

In Erbil kommt es immer wieder zu Anschlägen durch die Terrormiliz IS. Spüren Sie die Bedrohung im Alltag?

Ja, ich spüre sie, aber nicht etwa durch Schüsse oder Explosionen. Der Krieg ist weit genug entfernt. Es sind die Sicherheitsmaßnahmen: Gerade bin ich zur Eröffnung einer Schule im Flüchtlingslager Ashti gefahren, wo 5000 christliche Flüchtlinge leben. Bei der Fahrt saß ich in einem gepanzerten Fahrzeug. Die Sicherheitsmaßnahmen sind extrem und werden immer wieder noch weiter erhöht.

Sie waren auch früher schon im Irak. Beschreiben Sie die Stimmung im Land.

Die Stimmung im Land vor der Bedrohung des IS war eine ganz andere. Es handelte sich hier um eine wachsende Region mit viel Potenzial. Internationale Experten aus vielen wissenschaftlichen Bereichen waren vor Ort. Mittlerweile liegt das alles brach. Es gibt nur Baustellen zu sehen, die nicht fertiggestellt werden. Die Menschen sehen keine Perspektive mehr - das ist auch der Grund, warum sie alle nach Europa wollen.

Wie reagieren die Flüchtlinge in den Camps auf Ihr Fitnessprogramm?

Ich habe zusammen mit meinen Kollegen ein Bewegungsprogramm ausgearbeitet. Die Menschen sind sehr neugierig, vor allem die Kinder kommen immer gleich auf uns zu und wollen uns die Hand schütteln. Die machen immer als erstes mit, sie sind einfach großartig. Mit den Erwachsenen ist es manchmal komplizierter. Frauen dürfen nicht überall mitmachen, aber im Qushtapa-Camp haben sie durchaus mittrainiert, obwohl es mit ihren langen Gewändern ganz schön schwierig ist, Ausfallschritte zu machen. Aber sie haben dann gelacht und viele Selfies gemacht.

Wie geht es mit Ihrem Fitnessprogramm nun weiter?

Die finanziellen Mittel sind knapp. Die Prioritäten liegen momentan auf anderen Gebieten, wie dem Essen. Wir arbeiten alles auf Papier aus. Letztens haben wir ein Trainingsprogramm für Kinder entwickelt mit Übungen und Spielen. Anstatt Matten zu verwenden, haben wir einfach alte Kleider oder Teppichfetzen genommen.

Sehen Sie, dass die Lager überfüllt sind und das Essen, wie das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen berichtet, knapp wird?

Ja, die Lager sind voll. Kurdistan hat jetzt aktuell 1,9 Millionen Flüchtlinge. Und zur Finanzlage: Anfang des Jahres haben die Vereinigten Arabischen Emirate 500 Millionen Dollar gespendet. Die Vereinten Nationen haben jedoch berechnet, dass von Juni bis Dezember 2015 weitere 500 Millionen Dollar benötigt werden, nur um die Grundbedürfnisse zu gewährleisten. Davon sind bisher nur 43 Prozent aufgebracht worden. Und deshalb wurde im Bereich Gesundheit und Ernährung gekürzt. Es ist wahr, das Essen wird knapp. Ich habe in den Camps beispielsweise beobachtet, dass es kaum dicke Kinder gibt, die meisten sind dünn. Zudem liegt Kurdistan unter den internationalen Standards was die Kalorienzufuhr anbetrifft. Es ist ein Abwärtstrend zu beobachten.

In einem UN-Bericht ist ebenfalls zu lesen, dass in den Camps nicht alle Kinder zur Schule gehen können, aufgrund von Überfüllung. Haben die Erwachsenen eigentlich etwas zu tun?

In dem Camp, wo ich diese Woche gewesen bin, gab es ein Jahr lang keine Möglichkeit für die Kinder zur Schule zu gehen. Nun wurde vor einigen Tagen eine Schule mit einer Kapazität von 700 Plätzen eröffnet. Das Lager umfasst aber 5000 Einwohner. Ich bezweifle, dass alle Bildung erhalten können. Manche Flüchtlinge wie etwa jene aus dem Ashti-Camp, das in der Nähe der Stadt liegt, suchen sich Jobs. Sie versuchen, ihr Handwerk weiterzuführen. Manche arbeiten auch auf Baustellen. In Baherka hingegen, das ziemlich weit entfernt von Erbil liegt, können die Menschen nicht einfach in die Stadt fahren. Arbeiten ist dort für die meisten nicht möglich.

Wie fühlen Sie sich am Ende des Tages, wenn Sie aus den Lagern ins Hotelzimmer zurückkommen?

Das geht mir natürlich alles sehr nah. Ich reflektiere sehr viel und verstehe es nicht, wieso diese Rebellen nicht weiter zurückgedrängt werden können. Sie sind nur 45 Kilometer weit entfernt, innerhalb von 30 Minuten könnten sie vor dem Hotel stehen. Das ist schon ein mulmiges Gefühl. Aber ich lasse mich nicht aus Angst von irgendetwas abbringen.

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