Vom Leben in der Großstadt:Hellwache Nachtgedanken

Eine Tagung in der Katholischen Akademie in Schwabing beleuchtet, wie die Gesellschaft ihren Rhythmus immer stärker in die Dunkelheit verlegt und was das für Konsequenzen hat - auch auf die Teilnehmer der "Nachtung"

Von Thomas Anlauf

Der Einbruch der Nacht kann in diesen späten Novembertagen mitunter recht gewöhnlich ausfallen. Das trübe Grau wechselt einfach langsam über Dunkelgrau zu Schwarz. Wäre da nicht Astrid Schilling, die um 16.36 Uhr den Sonnenuntergang verkündet, man wäre ahnungslos in die Dunkelheit hineingedämmert. So aber wird um 16.29 Uhr das Licht im großen Vortragssaal der Katholischen Akademie hochgedimmt, eine Art Schulgong ertönt sanft, Astrid Schilling hat das Wort. Sie wünscht allseits "Gute Nachtung".

Die Wortkreation wurde mit Bedacht als Untertitel für eine gemeinsame Tagung gewählt, zu der die Evangelische Akademie Tutzing, die Katholischen Akademie in Bayern und der Kirchliche Dienst in der Arbeitswelt der Evangelisch-Lutherischen Kirche (kda) nach Schwabing eingeladen hatten. Die "Nachtung", so die Leiterin der mehr als 16-stündigen Veranstaltung, sei schließlich zunächst "das Gegenteil einer Tagung", weil sie schließlich während der ganzen Nacht stattfinde. Zudem werde "die Nacht als Thema beleuchtet". Und das in seinen verschiedenen Facetten: Die Chronobiologin Martha Merrow referiert auf Englisch über den Tag-Nacht-Rhythmus, den "Rhythm of Life", der Vorsitzende der Ornithologischen Gesellschaft in Bayern, Manfred Siering, wird die Nachtungs-Teilnehmer weit nach Mitternacht ins Dunkel des Englischen Gartens führen, Thomas Kessler vom Kanton Basel-Stadt über Sperrstunden, nächtliches Flugverbot und ähnliche Themen der Dunkelheit sprechen und der Freiburger Psychologe und Humanbiologe Marc Wittmann über nächtliche Zeitwahrnehmung und darüber, "dass wir verlernt haben, zu warten".

Vom Leben in der Großstadt: Bei der "Nachtung" war der Anfang des Tages in Gestalt des Sonnenaufgangs am Kleinhesseloher See ein Ende - und zwar der Tagung.

Bei der "Nachtung" war der Anfang des Tages in Gestalt des Sonnenaufgangs am Kleinhesseloher See ein Ende - und zwar der Tagung.

(Foto: Stephan Rumpf)

Doch auch das ist es, was die etwa 40 Teilnehmer der Nachtung am vergangenen Wochenende gelernt haben: zu warten, was mit ihnen und ihrem Körper, ihrer Wahrnehmung im Laufe des Übernacht-Projekts geschieht. Die Seminaristen verändern sich mit den Stunden, das kündigt bereits zwei Stunden nach Beginn der Vortragsreihe Dietrich Henckel an: "Eine Nacht ohne Schlaf senkt die Aufmerksamkeit wie 0,8 Promille Alkohol", sagt der Professor vom Institut für Stadt- und Regionalplanung an der TU Berlin. Henckel ist auch Projektleiter im Forschungsverbund "Verlust der Nacht", was seinem Vortrag natürlich einen gewissen Dreh gibt. "Es ward zu viel Licht", sagt er in Anspielung auf das Genesis-Zitat "Und Gott sprach: Es werde Licht." Er fordert, dass "die Dunkelheit geschützt werden muss", denn in den vergangenen Jahrzehnten habe die Beleuchtung in Städten stark zugenommen. "Licht kann man auch ausschalten", so Henckel.

Allerdings ist selbst unter Experten umstritten, wie viel Licht in einer Stadt nötig ist. Die einen argumentieren mit der Sicherheit, die Licht vor Kriminellen, aber auch im Straßenverkehr bietet. Andere finden, dass gerade auf den Straßen zu viel Licht zum Rasen verleitet und Sicherheit für Passanten nur vorgaukelt. In dieser Frage ist sich sogar Ralf Noziczka gar nicht so sicher. Der Diplom-Ingenieur vom Baureferat, in München für die Straßenbeleuchtung und Verkehrsleittechnik zuständig, steht am späten Abend mit einer Handvoll Interessierter in Schwabing an der Leopoldstraße. "Die Ampeln leuchten jetzt schon ziemlich grell", sagt er. Sie wurden ebenso auf LED-Technik umgerüstet wie nach und nach viele Straßenzüge in München. Freiham soll als erster Stadtteil komplett mit der neuen Leuchttechnik ausgestattet werden. Dabei gebe es "noch keine Langzeiterfahrung" mit dem Leuchtmittel, so Noziczka.

BMW Welt und Olympiaturm in München, 2014

Bei der Nachtung ging es unter anderem um den Einfluss des Lichtes auf die menschliche Wahrnehmung und um eine mögliche Belastung durch zu viel Licht.

(Foto: Robert Haas)

Eine Langzeiterfahrung der anderen Art aber haben die Nachtungs-Teilnehmer am Samstagmorgen hinter sich. Um 7.37 Uhr stehen sie am Kleinhesseloher See und blinzeln in die aufgehende Sonne. Die Nacht war verdammt lang, mit Exkursionen, Vorträgen und gemeinsamen Gesprächen. Einige schauten sich "Night on Earth" oder "Midnight in Paris" an, um ganz im Nachtthema zu bleiben. Andere versuchten sich als Nachtschwärmer bei einer Schwabinger Kneipentour. Dort konnte man die Erfahrung sammeln, dass sich der Genuss von zwei Bier doch ganz anders anfühlt als eine durchwachte Nacht.

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