Vom eigenen Vater gekidnappt:"Ich wusste, dass ich ihn wiedersehe"

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Wie die Mordkommission und ein Mittelsmann den verschleppten Zehnjährigen aus Afghanistan zurückgebracht haben: Temur und seine Mutter erzählen.

Von Susi Wimmer

Temur hat sein Handy aufgeklappt, daraus tönt fremdländische Musik: Musik aus Usbekistan, "der Heimat meiner Mama". Der Zehnjährige lehnt an der Wand in den Gängen der Münchner Mordkommission, zappelt ein bisschen und grinst verstohlen. Wie es ihm geht? "Es ist schwer, diese Gefühle zu beschreiben", meint er. In der Tat ist das, was Temur erlebt hat, kaum in Worte zu fassen:

Wieder glücklich: Temur und seine Mutter. (Foto: Foto: Robert Haas)

Vor neun Monaten wurde der Bub auf Anweisung seines eigenen Vaters in Usbekistan auf der Straße gekidnappt, in den Kofferraum eines Autos gepackt und nach Istanbul, später nach Afghanistan verschleppt. Die Familie des Täters wusste über alle die Monate, wo Temur versteckt war - und hüllte sich in Schweigen. Am Donnerstagabend konnte seine Mutter Olesya K. am Münchner Flughafen das Kind erstmals wieder in den Arm nehmen. "Es war, als wäre er ein zweites Mal auf die Welt gekommen", sagt sie.

Monate der Angst und der Verzweiflung liegen hinter Olesya K. Jetzt sitzt die 30-Jährige beim Interview, ihre braunen Augen strahlen. Seit fünf Monaten ist die russischstämmige Usbekin in München, versteht die Sprache schon sehr gut und spricht auch selbst etwas Deutsch. "Danke" beispielsweise, ein Wort, das ihr heute tief aus der Seele kommt, "spasiba", wiederholt sie auf Russisch.

"Ich war bestürzt"

"Was gestern Abend am Flughafen passiert ist, was ich all die Monate über gefühlt habe, das lässt sich nicht vergleichen und nur schwer ausdrücken", übersetzt die Dolmetscherin. Neun Monate musste Olesya K. warten, bis sie ihren Sohn wiedersah. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, Olesya K. spricht langsam weiter. "Ich war überzeugt, dass ich ihn wiedersehe."

Dabei war dieses Zusammentreffen für Mutter und Sohn nicht leicht: "Ich war bestürzt", sagt die Mutter. Aus dem Kind sei fast ein junger Mann geworden. Temur, müde vom Flug von Pakistan nach München, traf an einem Seitenausgang des Terminals 1 auf die Journalisten. Reinhold Erös von der Kinderhilfe Afghanistan hatte den Jungen geholt und Medienvertreter aus ganz Deutschland aktiviert, er führte den Buben ins Blitzlichtgewitter der Fotografen. Im Hintergrund, mit versteinerter Miene, Josef Wilfling, Chef der Mordkommission: "Hauptsache, es ist gut ausgegangen."

Olesya K. hatte als 20-Jährige den damals 45-jährigen Kaufmann Mohammad Rahimi in der usbekischen Hauptstadt Taschkent kennengelernt. Der gebürtige Afghane ist seit etwa 20 Jahren mit Hauptwohnsitz in München gemeldet, leitete aber in Taschkent eine Schamottfabrik. 1997 kam Sohn Temur zur Welt. Olesya schloss in Taschkent eine Ausbildung zur Ärztin ab und praktizierte am Krankenhaus. Das Paar war nach islamischem Recht getraut, "eine Eheschließung, die in Deutschland nicht gültig ist", wie Mordermittler Josef Wilfling sagt. Die Beziehung von Olesya und Mohammad ging in die Brüche, "es ist sehr viel passiert", mehr will Olesya K. dazu nicht sagen.

"Es war für mich nicht mehr möglich, mit diesem Mann zusammenzuleben." Tatsächlich hatte Mohammad Rahimi längst eine jüngere Frau. Zwei weitere von ihm geschiedene Frauen mit insgesamt 16 Kindern lebten bereits in München. Und Mohammad verlangte von Olesya auch nach der Trennung, sie müsse sich in den Familienclan integrieren.

"Shock" - das russische Wort ist dem deutschen gleich: "Schock." Mit Grauen denkt Olesya an den 26. November 2006 zurück. An den Tag, an dem Temur verschwand. Sie war zu Hause in Taschkent, der Bub sollte einkaufen gehen. Er kam nicht wieder. "Ich habe sofort Polizei und Staatsanwaltschaft eingeschaltet", erzählt sie. Dann der Anruf des Vaters: Er habe den Buben. Olesya müsse zu einem Treffen nach Kasachstan kommen. Mohammad Rahimi war zu diesem Zeitpunkt bereits "wegen Verstoßes gegen die Ordnung des Landes" aus Usbekistan ausgewiesen worden. Olesya K. atmet tief ein und wiederholt dann die damalige Forderung des Entführers: "Du musst mich nach deutschem Recht heiraten, willst du dein Kind wiedersehen."

Olesya K. kam nach München, heiratete Rahimi in Dänemark - doch der brach sein Versprechen. Temur blieb verschwunden. Monate bangen Wartens folgten. Anfangs durfte die 30-Jährige noch mit ihrem Sohn telefonieren. Am 11. März, zwei Tage vor Temurs zehntem Geburtstag, brach der Kontakt ab. Olesya stand nach wie vor mit dem Rahimi-Clan in München in Kontakt. "Die Frauen hier haben viele Kinder, auch Enkelkinder", erzählt sie.

Sie kämen zwar aus fremden Welten. "Aber sie sind doch auch Mütter", ruft sie. Und dann bricht es heraus: "Sie haben es alle gewusst!" Alle Mitglieder der Familie Rahimi wussten, wo Temur versteckt war. Doch niemand sagte ein Wort zu Olesya, keiner half ihr. Sie stockt - und weint. "Ich will keinen von dieser Familie jemals wiedersehen." In den neun Monaten des Wartens "gab es Augenblicke, da dachte ich, ich kann nicht mehr weiterleben".

Und doch findet sie Trost. Bei neuen Freunden. Da ist zum Beispiel die Dolmetscherin Lidia Zimmermann. Und da sind die Ermittler der Mordkommission fünf, zuständig auch für Entführungen. Sie kennt die Namen: "Richard Thiess, Mike Sattler, Raimund Eichner, Paul Obereisenbuchner und Chef Josef Wilfling." Diese Männer haben "moralisch gesehen mein Leben gerettet". Die Ermittler stehen ihr zur Seite. Als sie erfährt, dass Temur bei der Schwester des Entführers in Afghanistan untergebracht war, dort nicht genügend zu essen bekam und das Wasser aus der Kanalisation trinken musste. Als sie erfährt, wie die Familie Rahimi ihren Sohn gegen sie aufhetzte. Die Mutter sei schuld, dass der Vater im Gefängnis sitze. Schimpfworte, Lügen, über Monate hinweg.

Nervenprobe

Wo Temur sich in Afghanistan aufhielt, fanden die Ermittler rasch heraus. Nur: Doch den Buben aus Afghanistan zu holen, das geriet zur Nervenprobe. Obwohl die Stadt Andkhoy in einem Gebiet liegt, in dem die Bundeswehr stationiert ist, schied die Möglichkeit einer Befreiungsaktion aus. Auch der behördliche Weg war schwierig. "Man kann ein usbekisches Kind in Afghanistan nicht einfach in einen Flieger setzen", sagt Josef Wilfling. Reinhold Erös von der Kinderhilfe Afghanistan findet deutlichere Worte: Der Staat sei "viel zu umständlich" gewesen. "Da waren kein BKA und kein BND eingeschaltet, letztlich war alles Privatinitiative." Privatinitiative bedeutete, dass die Münchner Mordermittler gut 5000 Euro für Temurs Rettung spendeten. Nach Angaben von Erös haben 20 Afghanen und 10 Pakistanis geholfen, den Jungen durch Afghanistan zu einem

pakistanischen Flughafen zu schleusen. In zehn Tagen sollen sie rund 1600 Kilometer zurückgelegt haben. Die 10 000 Euro Kosten für Transfer, Übersetzer und Mittelsmänner in Pakistan und Afghanistan will Erös übernehmen.

"Ich möchte hier leben und das Glück für mich und mein Kind wiederfinden", sagt Olesya K. Doch dieses Leben kann gefährlich bleiben: Gegen die Familie Rahimi laufen weiter Ermittlungen; gegen den todkranken Mohammad Rahimi wegen Geiselnahme, gegen vier Angehörige wegen Beihilfe. Erst dieses Ermittlungsverfahren hatte dazu geführt, dass ein Mitglied des Clans ein Einsehen hatte und Temur aus Andkhoy befreite. Ob die Untersuchungshaft für den krebskranken Rahimi jetzt aufgehoben wird, "wird überprüft", sagt Oberstaatsanwalt Anton Winkler.

Olesya K. muss jetzt bei Null anfangen. Ohne Wohnung, ohne Besitz. Aber mit Temur. "Das ist das Wichtigste", sagt sie. Und fährt leise fort: "Jetzt kann nur noch alles besser werden." Temur spielt unterdessen mit zwei Mordermittlern am Computer. Plötzlich dreht er sich um, sieht seine Mutter an. Und lacht.

© SZ vom 25.8.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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