Vermisstenstelle der Polizei:Einfach weg

Klaus Gmelch

Klaus Gmelch ist Chef der Vermisstenstelle der Münchner Polizei.

(Foto: Jakob Berr)

Als sie die beiden Schulranzen fanden, da wurde ihnen mulmig: Die Vermisstenstelle der Polizei sucht jedes Jahr nach Hunderten Münchnern, die verschwunden sind. Die meisten tauchen kurze Zeit später wieder auf, doch in manchen Fällen finden die Ermittler nur noch die Leichen - oder gar keine Spur.

Von Florian Fuchs

Als sie die beiden Schulranzen fanden, einfach auf der Straße weggeschmissen, da wurde ihnen mulmig. Eigentlich passt das nicht zusammen, Kindesentführer nehmen selten zwei Mädchen auf einmal mit, aber natürlich konnten die Mitarbeiter der Vermisstenstelle im Polizeipräsidium München nun nichts mehr ausschließen. Sie starteten eine Fahndung, durchleuchteten den privaten Hintergrund der Grundschülerinnen, informierten Busfahrer und Taxifahrer.

Die ersten Rückmeldungen waren beängstigend: Die beiden Mädchen, sagte ein Zeuge, hätten im Einkaufszentrum Pep Männer angesprochen, ob sie Geld haben könnten oder sie jemand mit nach Hause nehme. "Wenn die da an den Falschen geraten wären . . .", sagt Ermittler Klaus Gmelch. Die Mädchen gerieten nicht an den Falschen, ein Busfahrer bemerkte sie, die Polizei brachte die Ausreißer zurück zu ihren Eltern. Sie hätten einfach keine Lust gehabt auf Schule, sagten sie.

Keine Lust auf Schule, mal eine Auszeit nehmen, Gmelch und seine Kollegen hören solche Erklärungen oft im zweiten Stock des Bürokomplexes in der Hansastraße, wo die Vermisstenstelle der Kriminalpolizei sitzt. Fünf Fälle täglich bekommen die bis zu zehn Mitarbeiter auf ihre Schreibtische.

Die meisten Verschwundenen tauchen ohnehin wieder auf, ohne dass die Experten eingreifen müssen - da wird die Suchanfrage gar nicht von der Polizeiinspektion weitergeleitet. Die Abteilung hat eine Aufklärungsquote von nahezu 100 Prozent, etwa 20 vermisste Personen pro Jahr werden tot aufgefunden, meist handelt es sich um Suizid. Nur bei im Schnitt zwei Fällen pro Jahr bleiben die Personen unauffindbar.

Nur zwei Personen pro Jahr

"Das sind wirklich die Ausnahmefälle", sagt Gmelch. Der Chef der einzigen Vermisstenstelle in Bayern ist ein ruhiger Mann mit kurz getrimmtem, weißem Vollbart, und die Verbreitung dieser Statistik ist ihm wichtig: nur zwei Personen pro Jahr. "Leute, die eine Vermisstenanzeige aufgeben, gehen ja meist gleich von einem Verbrechen oder dem Tod des Vermissten aus", sagt Gmelch.

Die Arbeit der Personensucher ist deshalb immer eine Gratwanderung: In der Aufregung kann den Verwandten des Verschwundenen der Suchaufwand gar nicht groß genug sein. "Aber hinterher beschwert sich der Gesuchte bei uns manchmal, weil es ihm natürlich nicht recht war, dass wir in sein Privatleben eingedrungen sind und zum Beispiel beim Arbeitgeber nachgefragt haben."

Bloß weil jemand eine Person vermisst, ist sie noch lange nicht verschwunden. "Wir haben hier einige Klassiker", erzählt Gmelch. Da ist zum Beispiel das frisch verliebte Paar, bei der die Frau ihren Partner vermisst. "Dabei hat der das nur ein bisschen weniger ernst genommen und sich halt einfach nicht mehr gemeldet." Es gibt auch andere Fälle, in denen Personen nicht mehr gefunden werden wollen: Frauen zum Beispiel, die von ihrem Mann geschlagen wurden und in ein Frauenhaus geflüchtet sind. Solchen Männern teilt Gmelch dann nur mit, dass die Frau lebt und es ihr gut geht.

Knochen in einem Waldstück

Damit ein Mensch als vermisst gilt, müssen drei Kriterien erfüllt sein: Jemand muss "seinen gewohnten Lebenskreis verlassen haben", das heißt, er ist nicht in seine Wohnung zurückgekehrt und war auch nicht am Arbeitsplatz. Sein Aufenthaltsort muss unbekannt sein, und die Polizei muss eine "Gefahr für Leib und Leben" erkennen. Nur Kinder gelten sofort als vermisst, wenn ein Erziehungsberechtigter sie als verschwunden meldet.

Klaus Gmelch hat die aktuellen Fälle immer im Blick. In einem Programm auf seinem Computer kann er jeden Polizeieinsatz verfolgen, der in München läuft. Gerade zum Beispiel hat ein Mann in einer Polizeiinspektion angezeigt, dass er seine 65 Jahre alte Frau nicht mehr findet. Die Schutzpolizisten suchen zunächst selbst nach vermissten Personen, klappern etwa Keller, Speicher, Wohngrundstück ab und erstellen eine Personenbeschreibung. Erst wenn sie nicht mehr weiterkommen, wenden sie sich an die Vermisstenstelle.

Die Experten sehen dann zu, dass sie ein Lichtbild auftreiben, sie reden mit Verwandten, Kollegen und anderen Leuten aus dem Umfeld des Vermissten. Sie filtern jede noch so kleine Information heraus, die Aufschluss über den Verbleib geben könnte. "Unser Hauptarbeitsmittel ist das Telefon", sagt Gmelch, etwa wenn alle Münchner Krankenhäuser durchtelefoniert werden müssen.

Aber auch das Internet wird immer wichtiger. Einmal gab es eine Engländerin, die während des Oktoberfests zwei Tage nicht mehr am Campingplatz in Thalkirchen gesehen wurde. Die Verwandten in der Heimat sorgten sich, da postete die Frau auf Facebook ein Foto von sich auf der Wiesn: Sie hatte einen Münchner kennengelernt und war zu ihm gezogen, ohne jemandem Bescheid zu geben.

"Mit Dementen haben wir oft zu tun"

Bei den länger vermissten Personen findet sich manchmal erst nach Jahren eine Leiche, etwa bei Bergunfällen. Es ist noch nicht lange her, da tauchten Knochen in einem Waldstück auf, ein Ausweis lag gleich neben dem Gerippe - es war ein bereits länger vermisster Mann. Aber es gibt auch eine feste Klientel, jugendliche Ausreißer etwa, die immer wieder weglaufen. Da wissen die Experten von der Vermisstenstelle dann schon, wo sie suchen müssen.

Oder Demenzkranke. "Mit Dementen haben wir oft zu tun", sagt Gmelch. Die Suche nach solchen Personen ist schwierig. "Die wissen ja meist selbst nicht, wie sie wo hingekommen sind." Gmelch berichtet von einer dementen vermissten Frau aus München, die von polnischen Kollegen in Krakau aufgegriffen wurde. Was sich lustig anhört, ist gefährlich. "Demente erfrieren, weil sie gar nicht merken, dass sie in der Kälte sind. Und weil sie sich meist nicht trauen oder gar nicht in der Lage sind, jemanden anzusprechen."

Einmal hatte eine Frau ihren dementen Mann vermisst gemeldet. Die Polizei fand ihn in einem Hinterhof, er war gestürzt und gestorben. Vor kurzem auf dem Tollwood nahm eine ähnliche Geschichte einen besseren Ausgang: Ein psychisch kranker Mann war mit einer Gruppe auf dem Festgelände und war plötzlich nicht mehr aufzufinden. Erst nach einer kalten Nacht im Freien fand man ihn durch Zufall im Hinterhof der Paulskirche. "Er stand einfach da und hat vor sich hingestarrt", sagt Gmelch. Das sind die Momente, für die sie arbeiten in der Vermisstenstelle: Wenn eine Person wieder auftaucht.

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