Urteil im NSU-Prozess:"Für einen Steinwurf beim G 20 gibt es mehr"

Urteil im NSU-Prozess: Demonstranten zeigen am Abend Porträts der Opfer, um daran zu erinnern, wofür die Angeklagten verurteilt werden: die Ermordung von zehn Menschen.

Demonstranten zeigen am Abend Porträts der Opfer, um daran zu erinnern, wofür die Angeklagten verurteilt werden: die Ermordung von zehn Menschen.

(Foto: Stephan Rumpf)

Vorm Oberlandesgericht München sorgt vor allem ein Urteil im NSU-Prozess für gespaltene Reaktionen: Opferanwälte sind empört, rechte Sympathisanten applaudieren, am Abend demonstrieren Tausende. Die Eindrücke des Tages.

Von Martin Bernstein

Die Bilder der Ermordeten werden vorangetragen. Gleich dahinter gehen schweigend Angehörige der Opfer. Ihnen folgen zwischen 3000 und 6000 Menschen. Sie alle protestieren am Mittwochabend dagegen, dass die Urteile gegen Beate Zschäpe und ihre Helfer einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung der Verbrechen des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) bedeuten sollen.

Zu viele Fragen seien noch offen, wird immer wieder betont - und angeprangert, dass Gericht und Behörden kein Interesse gezeigt hätten, das rechtsextremistische Netzwerk wirklich aufzudecken. Man hat ihn nicht hören können, den Beifall, den schwarz gekleidete Neonazis im Gerichtssaal bei der Freilassung ihres Gesinnungsgenossen Andre Eminger gespendet haben sollen. Doch die Nachricht von der Szene, mit der der NSU-Prozess am Nachmittag vor Gericht endet, verbreitet sich nur Minuten später draußen vor der Tür.

Mit Transparenten und Sprechchören sind sie plötzlich da, empörte Gegendemonstranten. Und Polizisten, die sie einkreisen. Es kommt zu einem kurzen Tumult, dann stehen die Demonstranten aus der linken Szene einer massiven Kette von Polizisten und Justizwachtmeistern gegenüber. Die verteidigen das Hausrecht: Die Demonstranten haben sich zu nah an das Strafjustizzentrum gewagt. Die Rechtsextremisten sind da, wie zu hören ist, schon durch einen Hinterausgang aus dem Gerichtsgebäude geleitet worden. Sieben Stunden zuvor lümmelt der vor Jahren verurteilte Rechtsterrorist Karl-Heinz S. noch an der gelben Absperrschranke vor dem Gebäude herum. Keine Stunde mehr bis zur Urteilsverkündung - und unter den nächsten Zuhörern, die in den Hochsicherheitssaal A101 eingelassen werden, werden nun er und seine Begleiter sein. Und als etwas später ihr Gesinnungsgenosse André Eminger zu nur zweieinhalb Jahren Haft verurteilt wird, applaudieren die rechten Sympathisanten im Saal zum ersten Mal. Man kennt sich ja: Eminger nächtigte zu Prozessbeginn bei Gesinnungsgenossen in Obermenzing, bei der Münchner Pegida marschierte er anfangs auch mit.

Die milden Strafen lösen bei den Demonstranten vor dem Strafjustizzentrum Empörung aus. Buhrufe, Tränen, ungläubiges Kopfschütteln. "Wieder einmal Einzeltäter", kommentiert jemand sarkastisch. Er kenne kein anderes Terrorverfahren, in dem eine ähnlich milde Strafe wie die gegen Eminger ausgesprochen worden sei, klagt der Opferanwalt Alexander Hoffmann auf der Bühne vor den Demonstranten, die nur wenige Meter vom Haupteingang entfernt in der Sandstraße aufgebaut ist. "Für einen Steinwurf beim G 20 gibt es mehr." Und auch der Vorsitzende Richter Manfred Götzl habe "noch nie" ein mildes Urteil gefällt. Dafür gebe es nur eine Erklärung: Die "Lüge vom Trio" solle aufrecht erhalten werden. Gericht und Behörden versuchten das, wogegen sich die Demonstranten wehren: einen Schlussstrich zu ziehen. Als Hoffmann die Bühne verlässt, skandieren junge Kundgebungsteilnehmer: "Nazis morden, der Staat macht mit - der NSU war nicht zu dritt."

Den ganzen Tag protestieren mehrere hundert Menschen vor dem Strafjustizzentrum. Der Vorplatz ist abgesperrt, einige Nebenstraßen auch.

Auch Politiker lassen sich blicken. Wann immer einer vor dem Gerichtsgebäude auftaucht, ist er umringt von Mikrofonen und Kameras. Das gleiche gilt für Rechtsanwälte, die während der Urteilsverkündung oder in Verhandlungspausen vor die Tür kommen. Toni Hofreiter, Fraktionssprecher der Grünen im Bundestag und Abgeordneter für den Landkreis München, sagt, einen Schlussstrich dürfe es auch nach den Urteilen nicht geben, weitere Aufklärung sei nötig. Zu den Protesten hat bundesweit die Kampagne "Kein Schlussstrich" aufgerufen. Und obwohl auch in anderen Städten Kundgebungen stattfinden, rechnen die Organisatoren für die Hauptdemo am Abend mit mehr als tausend Teilnehmern. Auch andere haben mobilisiert: türkische Nationalisten, die nach Einschätzung von Beobachtern teils den rechtsextremen "Grauen Wölfen" nahestehen. "Die haben uns gerade noch gefehlt", stöhnt ein Mitarbeiter einer Beratungsstelle gegen Extremismus auf.

Die türkischen Demonstranten skandieren Parolen und entrollen eine riesige türkische Flagge. "Schämt euch!", rufen aufgebrachte Kundgebungsteilnehmer den Nationalisten zu. Es kommt zu heftigen Wortgefechten, doch die Polizei, die mit etwa 350 Beamten im Einsatz ist, muss zunächst nicht eingreifen. Aber als am Nachmittag das Urteil begründet und mit Eminger ein Unterstützer der Terrorgruppe NSU freigelassen ist, wird die anfangs ruhige Atmosphäre immer angespannter. Nicht türkische Nationalisten, sondern deutsche Neonazis haben den Tag des Urteils für sich zu nutzen gewusst. In den "Nestern der Nazis" werde heute wohl groß gefeiert werden, vermutet Opferanwalt Hoffmann, als er um 16 Uhr noch einmal auf die Bühne geht. Er sagt: "Dieses Urteil mag legal sein. Doch es erhält keine Legitimität."

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