Uraufführung in der Staatsoper:Jubel für den babylonischen Untergang

Jaulende Bläser und opulente Bilder: Die Uraufführung der Oper "Babylon" von Jörg Widmann und Peter Sloterdijk ist geglückt - trotz oder gerade wegen der Kombination aus schräger Musik und philosophischem Anspruch.

Helmut Mauró

Fotoprobe 'Babylon' in der Bayerischen Staatsoper München

Die Sopranistin Gabriele Schnaut als Euphrat in der Oper "Babylon".

(Foto: dpa)

Ein beinahe makabres Omen: Wenige Stunden vor der Uraufführung von Jörg Widmanns Oper "Babylon" stirbt einer seiner frühen Mentoren: Hans Werner Henze, einer der bedeutendsten Komponisten der jungen Bundesrepublik mit Ausstrahlung in die ganze Welt. Intendant Nikolaus Bachler würdigt Henze in angenehm knappen Worten und widmet die Aufführung auf Wunsch der Beteiligten dem großen Henze.

Ein Omen war die Koinzindenz dessen Todes mit der Uraufführung von Widmanns "Babylon" insofern, als dieses neue Musiktheaterstück, das deutete sich schon im Vorfeld an, die Tradition der Oper in der Moderne nicht nur irgendwie fortsetzen, sondern tatsächlich neu beleben könnte. Denn was dem zeitgenössischen Musiktheater an Sinn und Sinnlichkeit in den letzten Jahrzehnten teilweise etwas abhanden gekommen ist, das bietet dieses Stück beinahe schon im Überfluss:

Unerhört vielseitige und vielschichtige Musik, ein sprachlich und inhaltlich stimmiges Libretto, einen weder banalen noch überfrachteten Plot und, im Falle der äußerst geglückten Uraufführung vom Samstag an der Bayerischen Staatsoper: eine atemberaubend bildgewaltige Umsetzung, ein perfekt besetztes Solistenteam, einen wunderbar präparierten Chor und nicht zuletzt ein hochambitioniertes Bayerisches Staatsorchester unter der am Ende heftig umjubelten Leitung des scheidenden Generalmusikdirektors Kent Nagano, dessen Vertrag vom neuen Intendanten Bachler nicht verlängert worden war.

Ein kongeniales Trio

Der 1973 in München geborene Jörg Widmann gehört derzeit zu den profiliertesten Komponisten seiner Generation. Dass er seine neue Oper, ein Auftragswerk der Bayerischen Staatsoper, mit dem Philosophen Peter Sloterdijk als Librettisten realisieren konnte, erwies sich zudem als Glücksfall für die aufwendige Produktion über das vorantike mythenbeladene Babylon, dem Sinnbild des Multikulturalismus, der Vielsprachigkeit, der Lebensgier - und für Gläubige natürlich auch der Abfall von Gott.

Ebenso kongenial fügt sich die Regie unter Leitung von Carlus Padrissa von der katalanischen Künstlergruppe La Fura dels Baus, die für furiose Bildfolgen und für technik-affines Hochgeschwindigkeitstheater steht.

Orgiastische Szenen und Glitzerkostüme

In München ging es diesmal eher um ruhigere Bildeindrücke, die sich jedoch nicht minder stark einprägten. Neben dem springflutartig überlaufenden Euphrat (verkörpert auch durch die Sorpanistin Gabriele Schnaut), singende Planeten in Glitzerkostümen, Chormassen in Buchstabenkleidern, die den im Hintergrund als Buchstabenfluss herabstürzenden Euphrat in die Vorderbühne hinein fortlaufen lassen, gibt es orgiastische Szenen mit übermannsgroßen Phalli und ebenso ausladenden Vulven, aber im Sinnzusammenhang des Opferfestes wirkt das alles weit weniger obszön als gewohnt.

Immerhin geht es darum, dass Tammu (stimmlich und darstellerisch von unerschütterlicher Sicherheit: Jussi Myllys), Exiljude und Freund des Priesterkönigs von Babylon (hervorragend: Willard White), sich durch die Priesterin Inanna (in der wohl schwierigsten Partie des Abends glänzend und am Ende zu Recht mit Beifall überschüttet: Anna Prohaska) nicht nur sexuell angezogen fühlt, sondern dermaßen in seinen geistigen Grundfesten erschüttert ist, dass ihm nicht nur Tradition und Glaube, sondern sogar die eigene Seele (virtuos und sicher auch in unverschämt hoher Lage: Claron McFadden) abhanden kommt.

Tammu ist hin- und hergerissen zwischen der geliebten Seele, die nun einsam umherirrt, und der mächtigen Prieserin Inanna, die ihn schließlich vollkommen in Bann schlägt. Der Priesterkönig erneuert derweil die Weltordnung und schafft vor allem Integration vor allem durch die neuen Opferrituale. Das funktioniert nur, wenn es wirkliche Opfer sind, die das Sein und Bewusstsein des Opfernden nachhaltig verändern, und das heißt: Die Götter fordern das, was der König am meisten liebt. Es trifft Tammu.

Erschaffung einer opferfreien Welt

Die Geliebte, Inanna, erwirkt bei den Göttern eine Rücknahme des Opfers, und die beiden Liebenden schaffen eine neue, opferfreie Welt. Bis dahin aber ist es ein steiniger, schmerzensreicher Weg, zu dem der Komponist Widmann einen ebenso steten und intensieven Klangfluss kreiert hat. Das Erstaunliche dabei: Wie er die Babylonische Vielsprachigkeit in eine kongeniale Vielklanglichkeit umsetzt, die verständlich wirkt und beinahe vertraut, aber genau besehen dann doch im Vagen bleibt und rein ästhetitsche, vom Inhalt abstrahierte Aspekte damit in den Vordergrund gelangen. Ganz so, wie man ein vielsprachiges Stimmengewirr akustisch erfassen würde.

Der göttliche und menschliche Leidensweg, der am Ende zu einer Neuordnung der Welt in sieben Wochentagen führt, beginnt in den Ruinen von Babylon, wo zwischen den Trümmern der Stadtmauer der letzte Überlebendem, ein Skorpionmensch herumgeistert und den biblischen Fluch verkündet, der über der Stadt liegt: "Wer dich wieder aufbaut, sei verflucht, sein erstes Kind soll sterben bei der Gründung der Stadt, sein jüngstes Kind soll sterben beim Einsetzen der Stadttore."

Fotoprobe 'Babylon' in der Bayerischen Staatsoper München

Düstere Szenerie: Die Sopranistin Anna Prohaska in der weiblichen Hauptrolle der Inanna.

(Foto: dpa)

Widmann hat diesen Fluch nicht als Drohgebärde komponiert, sondern als große Klage über den Untergang der babylonischen Hochkultur, und der Countertenor Kai Wessel trifft wunderbar all die Zwischentöne von Trauer und Verzweiflung, die der Komponist mit genialischem Gespür eingeflochten hat. Aus dem Off hört man den Chor in beinahe vertrauten Harmonien, choralartig angelegt, auf den Himmel vertrauend.

Später, gegen Ende der sieben Bilder, in denen die oft oratorienhafte Oper angelegt ist, wird auch der Himmel eingestürzt sein und die Zeitordnung vernichtet. Zur Klage des Skorpionmenschen jaulen die Bläser wie wilde Hunde und Kojoten in dieser Trümmerstadtwüste, darüber schieben sich zuweilen Glissandi wie der Nachhall der Trompeten von Jericho, die einst die Stadtmauer zum Einsturz brachten, schließlich übernehmen Figuren auf der Bühne mit gekrümmten Blasinstrumenten diese Rolle, aus dem Orchestergraben kommt der Klang von tiefen Holztrompeten.

Was der Chor singt, versteht man bis auf die Anrufung "Babylon" nicht, es sind wohl Namen von Herrschern aus glanzvollen Tagen, auf der Lauftext-Leiste über der Bühne erscheinen dazu Keilschriftzeichen. Hinter den buchstabenbehafteten Mauerquadern erhebt sich ein Turm, rechterhand die vierbrüstige Statue der Göttin Inanna.

Nun erst eröffnet das erste Bild, die "einsame Seele" sucht nach Tammu, der sie verlassen und sich in die Priesterin Inanna verliebt hat. In die Liebe gefallen sei er "wie in den Rachen eines Löwen", lässt ihn Sloterdijk in biblisch anmutender versartiger Prosa sagen, so wie er generell sowohl im Tonfall, in Wortwahl und Erzählmelodie eine ganz eigene Sprachmusik entwickelt, die der eigentlichen Klangwelt Widmanns aber nie im Wege steht oder tautologisch zuvorkommt. Sloterdijk verzichtet allerdings weitgehend auf orientalische Überparfümierung der Metaphern, sodass ein lakonisch abgeklärter Grundklang entsteht, der die humanistische Wende in der überlieferten Katastrophengeschichte beinahe authentisch werden lässt.

Eine Frage bleibt offen

Nach den opulenten Festen und der alles zerstörenden Flut, hier dargestellt in holographischen Bildern von Tsunami und Atompilz, stellt Sloterijk kurzerhand einen menschheitsverbindenden Neuanfang, eine Auflehnung gegen längst machtlose Götter und "die Illusion vom sichern Heil". "Und doch", sagt der Skorpionmensch ganz am Schluss, "ich lebe". Nur eine Frage bohrt in ihm, nachdem er die ganze Welt und sein ganzes Leben als allmähliche Untergangskatastrophe erlebt hat: Woher das Sanfte und Gute kommt.

Expressive Bilder mit philosophischer Tiefe

Die weit verzweigte, vielfarbig schillernde Geschichte wird in Köstümen, Bühnenbild, von Tänzern und großer Statisterie in Mauerstürzen, Sintfluten und Feuerwänden opulent aufbereitet. Nicht einfach nacherzählt, nicht künstlich dramatisiert - Sloterdijk wollte von Anfang an "keinen vertonten Tatort", sondern in expressive Bilder aufgelöst, die einander ablösen, ergänzen, ineinanderfallen - sich einerseits selbst genug sind, im Gesamteindruck aber doch auf eine unterschwellige Ebene hinweisen, auf der ernste Dinge, im Grunde der Ernst des Lebens in all seiner unterhaltsam-prachtvollen Erscheinung verhandelt wird.

Nicht erst da kommt der Philosoph Peter Sloterdijk ins Spiel, der nicht nur das Libretto geschrieben hat, sondern schon im Vorfeld das denkerische Handwerk geliefert hat, um den künstlerischen Rahmen dieser in zwei Jahren erarbeiteten Riesenunternehmung abzustecken. Auch Jörg Widmann hat sich lange mit Thema und theatralischer Umsetzung befasst, ihn schien aber, das hörte man schon bei seinen ersten Arbeitsberichten heraus, wie immer die Begeisterung zu leiten, die schiere Schaffensfreude, die angesichts eines so umfangreichen und vieldeutbaren Stoffes wie der Geschichte der Stadt und des Phänomens Babylon zu erwarten war.

Für Widmann war Babylon von Anfang an zugleich konkreter historischer Ort, phantastische Vision, Mythos und abstraktes Phänomen. Und so arbeitet er auch selten mit klanglicher Bebilderung von Szenen und Figuren, sondern vielmehr mit dem Spannungsverhältnis unterschiedlicher musikalischer Schichten und Idiome.

Der bayerische Defiliermarsch scheitert

Immer meint man etwas zu verstehen und muss doch erleben, wie sich bei konkreterem Hinhören wieder alles verflüchtigt und gleichzeitig schon wieder eine neue Klangebene eingezogen wurde, deren Anfang und Ende unbegreiflich bleibt. Widmann arbeitet virtuos mit diesen Eindrücken des Verstehens und Nichtverstehens, mit Emotionen und deren plötzlicher Auflösung, mit Gedanken, die in einem vorkonkreten Zustand verharren. Dass auch mal etwas missglücken kann, zeigt der Versuch, mit bayerischem Defiliermarsch und Hupfauf-Fragmenten komische Elemente einzubringen.

Dass daneben aber unglaublich viel gelingen kann, beeindruckte an diesem Abend aufs Nachhaltigste. Immer wieder gibt es anrüherende Momente, die allein der elaborierten Musiksprache geschuldet sind und wie aus dem Nichts auftauchen und ebenso schnell wieder verschwinden oder sich auflösen in komplexe Dialoge und durchaus auch sperrige Klangszenen. Widmann hat in der Ausbalancierung von musikalischer Vertrautheit und durchaus auch schroffen Reizen inzwischen bewundernswerte Könnerschaft erlangt, er spielt mit traditionellen Formen ebenso virtuos wie mit freien Strukturen.

Das wichtigste aber: Er verliert nie den Faden zum Gegenstand, zum Stück, zur Story, zu den Bildern, zu den Protagonisten. In dieser Uraufführung jedenfalls passte alles: das wortgewaltige Libretto, die bis ins kleinste Detail austarierte Partitur, die ausgezeichneten Solisten, Chor und Orchester, schließlich eine mitreißende Regie. Das Publikum dankte mit viel Beifall und noch mehr Begeisterung, Sloterdijk stolpert über einen vergessenen babylonischen Mauerstein, als ein unverhoffter Buhruf aus dem Zuschauerraum kommt. Während sich alle beinahe bis zum Bühnenboden verneigen, nickt er - erschrocken oder unerschrocken? - kurz und knapp.

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